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Erfahrungsbericht JA 11/2018

Von Josef Weinzierl, M. Jur. (Oxon) | Okt 18, 2018

Motivation

Meine Beweggründe, mich für eine Wahlstation am Obersten Gerichtshof in Israel zu bewerben, waren vielfältig. Erstens entschied ich mich ursprünglich wegen meines Interesses an Politik und Fremdsprachen für ein Jurastudium – und das lässt sich nun einmal am besten an Verfassungsgerichten anderer Länder (bzw. internationalen Gerichten) verwirklichen. Zweitens wurde ich seit meiner Kindheit und Schulzeit sehr christlich geprägt und erzogen, sodass es mir immer ein Anliegen war, irgendwann das Heilige Land als den Ort kennenzulernen, aus dem das Christentum hervorgegangen ist und in dem alle drei monotheistischen Weltreligionen eine so zentrale Rolle spielen. Drittens haben wir als Deutsche historisch bedingt eine ganz spezielle Beziehung zum Staat Israel, der als unmittelbare Folge des Holocausts gegründet wurde, und ich war neugierig, welche Rolle diese Geschichte in der heutigen israelischen Gesellschaft spielt. Viertens ist der israelisch-palästinensische Konflikt so präsent in der Tagespolitik, dass ich es mir auch diesbezüglich als bereichernd vorgestellt hatte, mir vor Ort »ein Bild zu machen«. Und schließlich ist der Freistaat Bayern eher streng, wenn es darum geht, Stationen vor den schriftlichen Examensklausuren im Ausland zu verbringen, sodass ich im Rahmen der Wahlstation unbedingt eine interessante Zeit im Ausland verbringen wollte.

Vorbereitung – Struktur des Programms

Die Bewerbung für die Wahlstation am Obersten Gerichtshof in Jerusalem ist leider sehr aufwendig. Man sollte die Bewerbung bis zu neun Monate vorher einreichen, und es bedarf sowohl mehrerer Professoren-Gutachten als auch eines kleinen Aufsatzes auf Englisch, der wohl ein angemessenes Sprachniveau und grundlegende Kenntnisse des wissenschaftlichen Arbeitens nachweisen soll (alle wichtigen Informationen gibt es hier: https://supreme.court.gov.il/sites/en/Documents/Foreign%20Clerkships%20at%20the%20Supreme%20court.pdf). Auch deshalb ist eine Wahlstation am Obersten Gerichtshof wohl umso interessanter für diejenigen Referendare, die bereits einen LL.M. oder eine Promotion hinter sich haben oder derartiges jedenfalls planen.

Obwohl die offizielle Sprache des Gerichtshofs Hebräisch ist, reichen gute Englischkenntnisse vollkommen für die Wahlstation am Obersten Gerichtshof aus, da jeder israelische Mitarbeiter Englisch spricht und die Aufgabe der internationalen Praktikanten ja gerade darin besteht, zu Fragen in anderen Rechtsordnungen zu recherchieren (traditionell vor allem Amerika, Deutschland, Frankreich, EU-Recht, EGMR- Rechtsprechung) und die Ergebnisse auf Englisch zu präsentieren. Es gibt darüber hinaus am Obersten Gerichtshof kein offizielles System, wie die Bewerbungen gehandhabt bzw. unter den 15 Richtern verteilt werden, und jeder Richter entscheidet selbstständig, ob und wie viele Foreign Law Clerks er oder sie beschäftigen will. Hat man diesen aufwändigen Bewerbungs-Prozess jedoch erfolgreich überstanden, geht es auch schon los – jedenfalls fast. Jedem, der sich bereits mit einer Reise nach Israel beschäftigt hat, ist nämlich bewusst, dass die Sicherheitsbedenken aufgrund des andauernden Konflikts in diesem Land enorm sind. Dies führt dazu, dass man nach der Anreise im Land selbst am Obersten Gerichtshof einer Sicherheitskontrolle mit backgroundcheck unterzogen wird, die ein paar Tage in Anspruch nimmt. Diese freien Tage nutzt aber jeder neue Foreign Law Clerk für erste touristische Ausflüge und um richtig im Nahen Osten bzw. in Israel anzukommen.

Der Oberste Gerichtshof

Was macht den Obersten Gerichtshof Israels so besonders? Nun, zunächst vereint er die Funktionen eines klassischen Verfassungsgerichts mit denen eines Rechtsmittelgerichts unter einem Dach. Das heißt, dass der Oberste Gerichtshof (als Ganzes auf Hebräisch »Beit Ha-Mishpat Ha-Elion«) einerseits als Verfassungsgericht (um Streitigkeiten ausschließlich zuständig ist. Andererseits ist er Rechtsmittelgericht in den zentralen Rechtsgebieten, also vergleichbar mit den Obersten Bundesgerichten in Deutschland. Eine weitere Besonderheit stellen die verfassungsrechtlichen Fälle dar, die dort verhandelt werden: Aufgrund des andauernden israelisch-palästinensischen Konflikts haben diese oft Bezug zum Terrorismus und zur nationalen Sicherheit. So wurde etwa während meiner Zeit dort die Frage verhandelt, ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, dass die israelische Armee die Leichen getöteter Hamas-Kämpfer als Verhandlungsmasse zurückhält oder ob es verfassungsgemäß ist, durch das neue Grundgesetz (»Basic Law«) festzuschreiben, dass allein das jüdische Volk in Israel ein Recht zur Selbstbestimmung hat. Vielen Völkerrechtlern ist der israelische Oberste Gerichtshof daher bekannt, da er als eines der wenigen Verfassungsgerichte weltweit wegen der umstrittenen Rechtsstellung der palästinensischen Gebiete regelmäßig Kriegsvölkerrecht und Internationale Menschenrechte anwendet und diskutiert. So urteilte der Gerichtshof erst im Mai 2018 über die Verfassungsmäßigkeit des Scharfschützeneinsatzes des israelischen Militärs gegen palästinensische Demonstranten und Hamas-Anhänger am Sicherheitszaun im Gazastreifen und wendete – und dies allein ist schon sehr umstritten – die völkerrechtlichen Regeln über bewaffnete Konflikte an und nicht etwa internationale Menschenrechte.

Eine weitere Besonderheit des israelischen Verfassungsrechts ist, dass es wie im Vereinigten Königreich nicht ein einzelnes, geschriebenes Verfassungsdokument gibt, sondern dass sich die Verfassung aus mehreren höherrangigen Einzelgesetzen und der dazugehörigen Verfassungs-Rechtsprechung zusammensetzt. Israel ist eine »jüdische Demokratie«, also jüdisch im religiösen oder nationalen Sinne (diese Frage ist sehr umstritten) und demokratisch, wobei die Vereinbarkeit dieser beiden Aspekte seit jeher kontrovers beurteilt wird. Weil aus diesem Grund auch jüdisches Recht einen speziellen Status im Gesellschafts- und Rechtssystem hat, wird zum Teil auch das Alte Testament der Bibel in den Urteilen zitiert – eine aus Sicht eines in Deutschland ausgebildeten Juristen definitiv sehr ungewöhnliche Tatsache.

Natürlich entscheidet auch das Bundesverfassungsgericht über gesellschaftlich sehr umstrittene Fragestellungen. Doch haben die Streitpunkte in Karlsruhe nach meinem Empfinden weniger häufig so fundamentale Fragen zum Gegenstand wie die verfassungsrechtlichen Fragen, die in Israel aufgeworfen werden. Das liegt unter anderem am Konflikt in Israel und daran, dass die deutsche Demokratie im Vergleich viel gefestigter  und unbestrittener ist als die israelische. Ein weiterer Fall während meiner Zeit am Obersten Gerichtshof handelte zum Beispiel davon, ob es verfassungsgemäß ist, dass eine ultraorthodoxe jüdische Partei Frauen unter Rückgriff auf die Bibel die Parteimitgliedschaft verwehrt und ihnen damit das Recht aberkennt, gewählt zu werden.

Und es ist definitiv nicht übertrieben zu sagen, dass der Oberste Gerichtshof sowohl von politisch linker als auch von rechter Seite regelmäßig massiv wegen seiner Urteile angegriffen wird. Auch die anderen Staatsgewalten versuchen zunehmend, auf die Richterbesetzung Einfluss zu nehmen und kritisieren manche Urteile mit einer Vehemenz, die in westlichen Demokratien (bis jetzt) einzigartig scheint. So ist etwa ein Abgeordneter im Jahr 2015 mit der Aussage aufgefallen, dem Obersten Gerichtshof mit einem Bulldozer zu Leibe rücken zu wollen. In diesem Zusammenhang fand ich eine Bewertung einer anderen Praktikantin während meiner Zeit dort als sehr treffend: »Wenn man von allen Seiten angegriffen wird, bedeutet dies oft, dass man einiges richtig macht.«

Alltag am Gericht

Aufgrund der soeben geschilderten gesellschaftlichen Ausgangssituation in Israel lässt sich nun auch die Arbeit als Foreign Law Clerk/Praktikant erklären.

Israel ist eine junge Demokratie, und die Justiz – insbesondere der Oberste Gerichtshof – hat sich entschieden, die Entwicklung des Rechtssystems mit einem offenen Blick auf ältere bzw. etabliertere Demokratien zu begleiten (für Interessierte zur Vertiefung: Iddo Porat, The Use of Foreign Law in Israeli Constitutional Adjudication, in Gideon Sapir, Daphne Barak-Erez & Aharon Barak [Hrsg.], Israeli Constitutional Law In The Making, 151). Das heißt, dass der Gerichtshof gerade in den verfassungsrechtlichen Fällen in den jeweiligen Urteilen der einzelnen Richter zum einen aufbereitet, wie ähnliche Fragen in anderen Ländern und Rechtssystemen behandelt werden bzw. zum anderen – vor allem bei den Fällen mit Bezug zum israelisch-palästinensischen-Konflikt – ob und wie sich das (Kriegs-)Völkerrecht zu diesem Problem verhält. Und es  ist die Hauptaufgabe der ausländischen Praktikanten dort, diese Teile der Urteile durch rechtsvergleichende Recherche vorzubereiten. Auch hier unterscheidet sich die Arbeitsweise von Kabinett zu Kabinett: Während ich im Kabinett der Präsidentin Esther Hayut eher grundlegende Fragen des Falles in mehreren Rechtssystemen in schriftlichen Memos darstellen sollte und vor allem mit ihren Assistenten zusammenarbeitete, sollten andere Praktikanten eher kleine Detailfragen recherchieren und diese sodann mündlich mit dem Richter/der Richterin selbst besprechen.

Nebenbei bemerkt ist ein weiterer Ausfluss des jüdischen Charakters des israelischen Staates, dass sich die Arbeitswoche von Sonntag bis Donnerstag erstreckt, weil der Samstag (»Shabbat«) als heiliger Tag der Woche gilt, in dem jedenfalls im eher religiösen Jerusalem das öffentliche Leben stillsteht. Die gängigen Arbeitszeiten während der Wahlstation erinnerten insgesamt zudem eher an einen »Nineto-five-Job« als an eine Großkanzlei, sodass noch viel Zeit blieb, Land und Leute kennenzulernen und sich nach den schriftlichen Klausuren des Zweiten Staatsexamens etwas auszuruhen.

Üblicherweise arbeiten Foreign Law Clerks mit ihren eigenen Laptops in der Bibliothek des Obersten Gerichtshofs, und die Hauptquellen der Recherche sind die lokalen Bestände dort sowie meistens eine einfache, offene Online-Recherche. Ein sehr positiver Nebeneffekt für mich war, dass man mit den anderen Kollegen aus dem Ausland (in meinem Fall aus Kanada und den USA) am selben Ort in der Bibliothek arbeitet und sich so ein richtiger Freundeskreis entwickeln kann, mit dem man auch außerhalb des Gerichts viel unternimmt.

Des Weiteren hat man als Praktikant im Alltag auch regelmäßigen Kontakt zum Richter/zur Richterin selbst oder jedenfalls zu seinen/ihren Assistenten (wie gesagt, jedes Kabinett arbeitet nach eigenen Regeln) und trägt somit durch die schriftliche Recherche und die anschließenden Diskussionen direkt zur Vorbereitung der Urteile bei. Ich hatte das große Glück, dass eine der anderen Praktikantinnen Hebräisch sprach, sodass ich sogar an manchen mündlichen Verhandlungen teilnehmen konnte. Und auch dort zeigte sich die Spaltung in der Gesellschaft, da die Gemüter bei den Zuschauern so erhitzt waren (es ging um die bereits erwähnte Übergabe der Leichen von Hamas-Kämpfern), dass es am Ende sogar zu Handgreiflichkeiten im Zuschauerraum kam.

Ich hatte persönlich den Eindruck, dass am Obersten Gerichtshof sowohl die Existenz eines tendenziell eher aktivistischen Verfassungsgerichts als auch zentrale Errungenschaften wie die israelische Demokratie und der Rechtsstaat selbst täglich neu auf dem  Prüfstand stehen und verteidigt werden müssen. Denn dort ist es eben nicht politischer und gesamtgesellschaftlicher Konsens, dass Verfassungsgerichte die Legitimität besitzen, Gesetze des Parlaments (der »Knesset«) für ungültig zu erklären und durch Auslegung und Fortentwicklung der Verfassung das gesellschaftliche Leben mitzubestimmen.

Zwar spielt der Holocaust im täglichen Leben und Umgang eine eher geringe Rolle, und es ist keineswegs so, dass man als Deutscher darauf angesprochen wird. Aber es ist persönlich wirklich prägend, von ehemaligen und aktuellen Richtern sowie jüngeren Israelis, mit denen man im Laufe der Zeit ins Gespräch kommt, zu hören, dass sie oft große Teile der Familie im Zweiten Weltkrieg verloren haben und ihre direkte Verwandtschaft in die Emigration getrieben wurde.

Das Leben in Jerusalem und Israel

Bevor ich nach Israel aufgebrochen bin, gab es oft nur zwei ganz bestimmte Reaktionen von den Personen, denen ich von diesem Vorhaben erzählt hatte: entweder grenzenlose Begeisterung (oft bei denen, die bereits Israel-Erfahrung hatten) oder große Skepsis ob der Sicherheitslage (oft bei denen, die Israel nur aus Berichten kennen). Beides spielte natürlich im Alltag eine Rolle, da einerseits der Konflikt das Leben aller Israelis prägt, man andererseits als ausländischer Tourist aber selten selbst Zielscheibe einer der Konfliktparteien ist. Vielmehr haben beide Seiten ein reges Interesse an Touristenbesuchen und begegnen ihnen sehr offen und freundlich, und oft wird behauptet, Touristen seien besonders sicher in Israel. Israel ist einfach in vielerlei Hinsicht besonders, wegen des bestehenden israelisch-palästinensischen Konflikts, der Staatsgründung als Folge des zweiten Weltkriegs, als Ursprungsland großer Weltreligionen etc. Darüber hinaus ist Jerusalem und insbesondere dessen historische Altstadt einzigartig. Alle drei abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) haben heilige Stätten dort und leben dort zusammen. Man spürt dieses Nebeneinander der Religionen und was dies für Bewohner und Besucher bedeutet. Und letztlich gründen auch ein Großteil unserer westlichen Kultur und Geschichte auf diesem Quadratkilometer Erde – man denke etwa an die politische Diskussion um das christlich-jüdische Abendland in den letzten Jahren. All dies als Teil des Referendariats zu erleben war sehr beeindruckend und prägend und konnte die Gedanken an die schriftlichen Examensklausuren rasend schnell vertreiben.

Jerusalem ist darüber hinaus außerhalb der Altstadt auch eine weltoffene Studentenstadt, sodass es kein Problem ist, als internationaler Praktikant online vorab zu ähnlichen Preisen wie in deutschen Studentenstädten eine Wohnung zu finden und abends auszugehen, wobei natürlich die Weggeh-Szene im eher religiösen Jerusalem viel weniger ausgeprägt ist als im betont weltoffenen und für seine Partyszene bekannten Tel Aviv. Viele der wichtigen Orte und Sehenswürdigkeiten der Stadt sind auch von fast überall zu Fuß zu erreichen. Einige der Praktikanten des Obersten Gerichtshofs, die den Fokus weniger auf Religion und Kultur als auf Nachtleben und Internationalität legen, pendeln auch täglich aus Tel Aviv und wohnen dort. Auch ansonsten sind viele der historischen Orte im Land, insbesondere die Stationen des Lebens Jesu, die arabisch geprägten Regionen, das Westjordanland oder auch das Tote Meer leicht mit den öffentlichen Bussen zu erreichen, weshalb sich die Wahlstation auch sehr gut eignete, um das ganze Land und seine Geschichte kennenzulernen.

Fazit

Die Wahlstation am Obersten Gerichtshof in Israel ist sicher mit einem viel größeren Bewerbungs- und Organisationsaufwand verbunden als andere Wahlstationen im Ausland, und es gibt ruhigere Orte als den Nahen Osten. Doch für mich waren diese Monate unglaublich bereichernd: Ich konnte Land und Leute persönlich kennenlernen und versuchen zu verstehen, warum dieser Konflikt mit keinem anderen auf der Welt so richtig vergleichbar ist; ich konnte selbst erleben, welch große Rolle Religion in diesem Land spielt; und schließlich durfte ich als Teil des Referendariats an einem einzigartigen Obersten Gerichtshof mitarbeiten, der täglich versucht, mit dem Werkzeug des Rechts die Gesellschaft zusammenzuhalten, zu ordnen und zu befrieden. Ich kann eine Bewerbung um eine Wahlstation am Obersten Gerichtshof Israels daher auf jeden Fall denjenigen empfehlen, die sich für die großen Fragen von Demokratie und Rechtsstaat sowie für ein Land wie Israel interessieren und die nach den schriftlichen Examensklausuren nichts gegen einen eher radikalen Tapetenwechsel haben. Es ist nämlich definitiv eine einzigartige Gelegenheit, die Wahlstation als Teil der deutschen juristischen Ausbildung an einem so faszinierenden Gericht und in einem so facettenreichen Land zu verbringen.

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