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Editorial JA 12/2023

Von Prof. Dr. Christian Wolf, Hannover | Nov 17, 2023

Weihnachtsbuchempfehlung der JA 2023

Wie in jedem Jahr versucht die Weihnachtsbuchempfehlung der JA, Bücher vorzustellen, die geeignet sind, die aktuelle politische und rechtliche Diskussion zu beeinflussen, die sich mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Auseinandersetzen heißt nicht unbedingt Zustimmen, vielmehr sollen die Bücher zum Selberdenken anregen. Kant hat Aufklärung als die Befreiung von der selbstverschuldeten Unmündigkeit begriffen. Drei Bücher der diesjährigen Weihnachtsbuchempfehlung sind unmittelbar dem Gedanken der Aufklärung verpflichtet:

Julian Nida-Rümelin, »Cancel Culture« Ende der Aufklärung?, Piper Verlag, 2023, 192 S., 24,00 EUR

Nida-Rümelin beschreibt das Projekt der Aufklärung folgendermaßen: »Im Vertrauen auf die menschliche Vernunftfähigkeit nimmt sie ihre Kritiker als Gesprächspartner ernst und bekämpft sie nicht als Feinde. Ihre Stärke beruht auf ihrer Universalität und Inklusivität, ihre Schwäche ebenso.« Demgegenüber will die Cancel Culture nicht in einen politischen Diskurs treten, nicht um das bessere Argument streiten, sondern den anderen zum Schweigen bringen. Nida-Rümelin streitet in seinem Buch für den Erhalt des Projekts der Aufklärung: unsere Urteilskraft durch den Dialog, durch wechselseitige Anerkennung als Gleiche, Freie und Vernunftfähige zu erhalten. Eine besondere Gefahr sieht er, wenn Werturteile aufgrund religiöser Dogmatik, ideologischer Setzung und durch anerkannte Autoritäten als vorgeben angesehen werden und damit dem Dialog entzogen sind.

Michael Lüders, Moral über alles?, Goldmann Verlag, 2023, 256 S., 18,00 EUR

Nida-Rümelin unternimmt einen Parforceritt durch die abendländische Philosophie, um für einen demokratischen aufgeklärten Dialog zu streiten. Lüders liefert für diesen von Nida-Rümelin eingeforderten Dialog ein beklemmendes aktuelles Beispiel. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat sich zu einem Stellungskrieg entwickelt, die Schlacht von Verdun bezeichnete man als Knochenmühle, an deren Ende das Beinhaus (in der Schlacht von Verdun (21.2.–18.12.1916) starben 300.000 Soldaten; ein Großteil der Toten ist in dem Beinhaus von Verdun-Douaumont beerdigt) steht. Liest man bei Twitter die Frontberichte von Sicherheitsexperten, fühlt man sich in den ersten Weltkrieg versetzt. Sogenannte Militärexperten twittern jeden Morgen den Frontverlauf, welche Höhe durch die ukrainischen Streitkräfte gehalten würde.

Grund genug darüber nachzudenken, wie es zu dem Überfall von Russland auf die Ukraine gekommen ist, welche Interessen Russland mit dem Überfall verfolgt. Putin-Versteher ist ein Begriff, mit dem man versucht, diese Diskussion zu canceln. Schon allein die negative Konnotation des Begriffs ist eine intellektuelle Zumutung. Verstehen heißt nicht billigen, nicht befürworten, nicht gutheißen. Wer etwas verstehen will, sucht nach Lösungen. In seinem Buch kritisiert Lüders die Diskussionsverkürzung. Man glaubt sich auf der Seite des Guten. Lüders schreibt jene wertegeleitete Politik in der Umkehrung von Mephistos: »Als Teil jener Kraft, die stets das Gute will, doch stets das Böse schafft.«

Man muss Lüders nicht zustimmen, man soll und kann ihm sogar widersprechen, seine Argumente gehören jedoch zur Kenntnis genommen und diskutiert.

Meron Mendel, Über Israel reden, Eine deutsche Debatte, Kiepenheuer & Witsch, 2023, 224 S., 22,00 EUR

Der barbarische Terrorangriff auf Israel am 7.10. 2023 hat die Weltlage noch einmal dramatisch verändert. Meron Mendel hat sein Buch vor dem Überfall der Hamas auf Israel verfasst. Dennoch könnte es kaum aktueller sein. Die Gründung Israels ist auf das engste mit der Shoa verbunden. Juden sollten einen für sie vor Verfolgung sicheren Staat haben. Gleichzeitig ist die Gründung Israels aus arabisch palästinensischer Sicht mit der Nakba, der Vertreibung von ca. 700.000 Palästinensern, verbunden. Mendel ist 1976 in Israel geboren, er diente in der israelischen Armee und wanderte 2001 nach Deutschland aus. Er lehrt an der Frankfurt University of Applied Sciences. Ihm ist ein überaus kluges Buch gelungen. Das Buch leuchtet das Verhältnis Israels zu den Palästinensern genau so aus wie das Verhältnis Deutschlands zu Israel. Gerade jetzt ist das Buch ein Muss zu lesen. In vielerlei Hinsicht ist das Buch ein Beispiel für einen aufgeklärten Dialog in einem schwierigen Gebiet.

Katharina Zweig, Die KI war’s! Von absurd bis tödlich: Die Tücken der künstlichen Intelligenz, Heyne, 2023, 320 S., 20,00 EUR

Aufklärung ist die Befreiung von der selbstverschuldeten Unmündigkeit, so Kant. Und weiter heißt es bei Kant, Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben. Man muss nur einmal eine größere Veranstaltung zu Legal Tech besucht haben, um zu sehen, wie die Teilnehmer den Heilsversprechen einer einfachen und leichten Arbeitswelt glauben, an die man alle schwierigen juristischen Probleme auslagern kann. Man weiß zwar nicht wie ChatGPT funktioniert, ist aber begeistert, nicht mehr selbst formulieren und denken zu müssen. Katharina Zweig, Professorin für Informatik an der Technischen Universität Kaiserslautern, schüttet sehr viel Wasser in den süßen Wein der neuen Unmündigkeit. Um die Grenzen der KI aufzuzeigen, bedient sie sich immer juristischer Entscheidungsprozesse. Sie zeigt auf, wo die Grenzen der Automatisierung liegen müssen. Werturteile sind aus ihrer Sicht schon deshalb nicht an eine Maschine auslagerbar, weil wir bei Werturteilen keine Einigkeit erwarten. Algorithmen als regelbasierte Entscheidungsprogramme können aber nicht eine begrenzte Uneinigkeit abbilden. Ein im besten Sinne des Wortes aufklärerisches Buch in Zeiten des Legal-Tech-Hypes.

Philip Banse/Ulf Buermeyer, Baustellen der Nation, Ullstein Verlag, 2023, 384 S., 22,99 EUR

Die aus ihrem Podcast »Lage der Nation« bekannten Autoren haben aufgeschrieben, was sich bei uns ändern muss. So beschreiben sie die Wirkung der Schuldenbremsen für die marode Infrastruktur, die fehlende Digitalisierung, wie können wir wieder eine leistungsfähige Bahn erhalten. Fragen, die Autoren in ihrem Buch mit überraschenden Einsichten nachgehen.

Louis-Ferdinand Céline, Krieg, 2023, Rowohlt Verlag, 192 S., 24,00 EUR

Céline war ein französischer Schriftsteller, der wegen seiner antisemitischen Äußerungen stets umstritten war. 2023 ist auf Deutsch erstmals sein Roman »Krieg«, der lange verschollen war, erschienen. Céline zog als Kriegsfreiwilliger 1914 in den Krieg gegen Deutschland und wurde an Kopf und Schulter schwer verletzt. In dem Roman verarbeitet er seine Kriegserlebnisse: »Der Krieg hat mich im Kopf erwischt. Er ist in meinem Kopf eingesperrt. Da waren mindestens zweihundert Granaten auf einmal gekommen. Tote da wie dort. Der Kerl mit dem Brotbeutel war selbst wie eine Granate aufgeplatzt, muss man schon sagen, vom Hals runter bis mitten in der Hose. Zwei Ratten waren da schon gemütlich in seinem Bauch und knabberten an seinem Brotbeutel mit trockenen Rinden.« Ein Text, der einem dem Atem stocken lässt, ein Text, der die unmenschlichen Grausamkeiten des Kriegs veranschaulicht. Daran sollte man denken, wenn man in einer Kleinkindersprache von »free the leo« spricht.

Kai Bird/Martin J. Sherwin, J. Robert Oppenheimer, List Taschenbuch, 11. Aufl. 2023, 704 S., 16,99 EUR, und Christopher Nolan, Oppenheimer, Film Universal Pictures

Die Biographie über Robert Oppenheimer ist bereits 2010 erschienen. Nun wurde sie von Nolan verfilmt.

Oppenheimer entwickelte in Los Alamos die Atombomben im Manhattan-Projekt, die als Little Boy und Fat Man über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 abgeworfen wurden. 70.000 bis 80.000 Menschen waren nach dem Abwurf über Hiroshima sofort tot, eine vergleichbare Zahl von Toten verursachte der zweite Abwurf. Oppenheimer hat der Menschheit die Büchse der Pandora geöffnet. Oppenheimer kämpfte sein Leben lang damit, dass er der Menschheit, die darauf nicht vorbereitet war, das Instrument in die Hand gegeben hat, die Menschheit zu vernichten. Das Manhattan-Projekt stand in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem NS-Unrechtsregime. Die Furcht, die Nationalsozialisten könnten eine Atombombe entwickeln, war die Triebfeder des Projekts.

Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 9. Aufl. 2022, 550 S., Verlag Mohr Siebeck, 29,00 EUR

Dass eine Habilitationsschrift in der 9. Auflage 54 Jahre nach der Erstauflage erscheint, ist singulär. Die Umdeutung der Privatrechtsordnung durch eine unbegrenzte Auslegung ist nach wie vor ein Buch, das jeder Jura-Studierende gelesen haben sollte. Bernd Rüthers ist im Juni dieses Jahres mit 93 Jahren verstorben. Seine Verdienste um eine aufgeklärte Rechtswissenschaft leben in seiner Habilitationsschrift fort.


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