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Prof. Dr. Christian Wolf, Hannover | Nov 18, 2022
Etwas Orientierung liefert Gwendolyn Sasse, Der Krieg gegen die Ukraine, C.H.Beck, 2022, 128 S., 12,00 EUR. Sasse beschreibt den Hintergrund des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine. Besonders lesenswert ist ihre Erklärung: Warum dieser Krieg? Warum jetzt? So weist sie unter anderem darauf hin, dass es eine zunehmende Diskrepanz zwischen westlicher und russischer Sicherheitswahrnehmung gibt. Auch geht sie deutlich weniger holzschnittartig der Frage nach, warum bei der deutschen Wiedervereinigung eine spätere Auflösung des Warschauer Pakts und die Osterweiterung der Nato noch nicht gedacht wurde. Wer etwas genauer wissen will, warum dieser Krieg jetzt stattfindet, ist nach der Lektüre des Buches jedenfalls besser orientiert.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist ein verbotener Angriffskrieg. Kann Putin deshalb vor den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gebracht werden? Begeht die russische Armee in der Ukraine einen Völkermord? Machen sich die russischen Soldaten des Genozides schuldig? Verfolgt man die diversen Talk-Shows und Twitter-Diskussionen mit den »Völkerrechtsexperten« ist die Antwort völlig eindeutig.
Gerd Hankel hat ein überaus kluges kleines Buch zu diesen Fragen verfasst: Gerd Hankel, Putin vor Gericht? Möglichkeiten und Grenzen internationaler Strafjustiz, zu Klampen, 2022, 136 S., 14,00 EUR. Mit wenigen Strichen beschreibt Hankel die Entwicklung des humanitären Völkerrechts und des Völkerstrafrechts. Er verdeutlicht, dass es in einem juristischen Sinne viel schwerer ist, einen Völkermord nachzuweisen, als dies der regelmäßig gegen Russland erhobene Vorwurf des Völkermords erahnen lässt. Auch weist Hankel auf die Problematik des embedded journalism hin. Krieg fordert in der Regel unbedingte Gefolgschaft, was sich auch in der Berichterstattung zum Teil spiegelt. In mancher Beziehung ist das Buch ernüchternd. Die Chancen, Putin tatsächlich vor Gericht zu stellen, sieht Hankel derzeit eher als unrealistisch an, gleichviel will er nicht resignieren. Um Recht zum Durchbruch zu verhelfen, spricht er sich gegen Doppelstandards aus und weist darauf hin, dass auch gegenüber demjenigen das ius in bello zur Beachtung gebracht werden muss, der sich einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ausgesetzt sieht (ius ad bellum). Humanitäres Völkerrecht gilt auch gegenüber einem völkerrechtswidrigen Angreifer. Das Völkerstrafrecht ist gerade einmal einhundert Jahre alt. Recht ist nicht machtlos, zitiert Hankel den Chefankläger des IStGH Karim Khan, manchmal benötigt aber das Recht einen langen Atem.
Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Warum Krieg? Der Briefwechsel mit Albert Einstein, Reclam, 2022, 100 S., 6,00 EUR. Das Klima unserer Auseinandersetzung hat sich seit dem russischen Überfall auf die Ukraine deutlich verwandelt. Der Konflikt, wie man die Ukraine unterstützen kann und muss, wann Friedensverhandlungen, und wenn ja zu welchem Preis, geführt werden sollen, wird mit einer zunehmenden Schärfe geführt. Im Krieg ist unbedingte Gefolgschaft gefordert. In dem 1915 verfassten Text schreibt Freud: »Es will uns scheinen, als habe noch niemals ein Ereignis soviel Gemeingut der Menschheit zerstört, … soviel der klarsten Intelligenz verwirrt, so gründlich das Hohe erniedrigt. Selbst die Wissenschaft hat ihre leidenschaftslose Unparteilichkeit verloren, …«. Am Anfang des Ersten Weltkriegs stand die Kriegseuphorie, auch bei Freud, am Ende stand das Entsetzen über Verdun und das Beinhaus dort, welches uns an das Schlachten erinnert. Reclam hat zur rechten Zeit das Bändchen wiederaufgelegt. Zwar schreibt Freud auch: »Solange es Reiche und Nationen gibt, die zur rücksichtslosen Vernichtung anderer bereit sind, müssen diese anderen zum Krieg gerüstet sein.« Zumindest zu Weihnachten sollten wir es uns aber erlauben, uns mit der Frage auseinanderzusetzen, welchen Zivilisationsbruch Krieg bedeutet.
Die dritte Buchempfehlung hat mit den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die Justiz zu tun. Benjamin Lahusen, »Der Dienstbetrieb ist nicht gestört«, Die Deutschen und ihre Justiz 1943 – 1948, C.H.Beck, 2022, 384 S., 34,00 EUR oder als eBook 26,99 EUR. Lahusen lehrt Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte in Frankfurt Oder. Das Buch basiert auf seiner Habilitationsschrift. Dies ist eigentlich keine Kaufempfehlung, sondern ein abschreckender Hinweis. Wissenschaftliche Qualifikationsschriften sind meist nicht gut lesbar, sichern sich nach allen Richtungen hin ab und verfügen über einen überbordenden Fußnotenapparat. Ganz anders das Werk von Lahusen. Das Buch liest sich über weite Strecken wie ein – und dies ist als Kompliment gemeint – journalistischer Zeitbericht. So nimmt sich Lahusen zB die Freiheit, anhand von Neustadt, einer fiktiven Stadt – er bezeichnet es als Montage, seine Erkenntnisse aus den Archiven verdichtet darzustellen. Eine unbedingte Leseempfehlung, wie die Justiz ihren Betrieb trotz des Kriegsendes aufrechtzuhalten und Normalität zu simulieren suchte.
Die vierte Buchempfehlung befasst sich mit der bundesdeutschen Geschichte. Dieter Grimm, Die Historiker und die Verfassung, Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes, C.H.Beck, 2022, 358 S., 34,00 EUR. Zwei Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes wurde das Bundesverfassungsgerichtsgesetz verabschiedet, und das Gericht konnte am 7.9. 1951 seine Arbeit in Karlsruhe aufnehmen. Seit diesem Zeitpunkt haben die Entscheidungen des Gerichts die Politik und das Rechtsleben in Deutschland geprägt. Der Staatsrechtslehrer Dieter Grimm, der selbst von 1987 bis 1999 Richter des Bundesverfassungsgerichts war, wirft einen Blick auf die Geschichtswissenschaft. Welche Rolle spielen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für die Historik bei der Interpretation der neueren deutschen Geschichte? Aus der Sicht von Grimm läge hier ein Zugang zur Nachkriegsgeschichte, der von den Historikern noch nicht hinreichend gehoben ist. Für Juristen sehr lesenswert ist, wie Grimm die großen durch das Bundesverfassungsgericht angestoßenen Rechtsentwicklungen beschreibt. Die Veränderung unserer Gesellschaft von einer patriarchisch geprägten zu einer emanzipierten, auf Gleichberechtigung beruhenden Gesellschaft wurde maßgeblich vom Bundesverfassungsgericht geprägt. Diese Entwicklung skizziert Grimm auf wenigen Seiten einprägsam. Auch die konzise Darstellung der Entwicklung des Europarechts und die Reaktion des Bundesverfassungsgerichts sind mehr als lesenswert.
Mehmet Daimagüler/Ernst von Münchhausen, Das rechte Recht, Die deutsche Justiz und ihre Auseinandersetzung mit alten und neuen Nazis, Blessing, 2021, 592 S., 26,00 EUR oder als eBook 14,99 EUR. Die beiden Strafverteidiger beschreiben anhand einer ganzen Reihe von Fällen, wie sich die Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge, die in der Weimarer Republik sprichwörtlich war, auch nach 1945 fortsetzte und das Agieren der Ermittlungsbehörden auch heute vielfach nicht einem entschlossenen Kampf gegen Rechts entspricht, wie es die Politik fordert. Die beiden Autoren schildern jeweils einzelne Prozesse, deren Hintergrund und das Agieren von Gericht und Ermittlern in den Verfahren. Das Buch beginnt mit dem Verfahren gegen die Mörder von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und endet mit den Anschlägen von Halle (2019 bis 2021). Ausführlich beschreiben die Autoren, wie es der Vorsitzenden Richterin gelang, die krude Argumentation des Angeklagten ad absurdum zu führen. Ihr Fazit über das Verfahren von Halle ist: »Hoffnung hat auch dieses Gericht gestiftet, auch ihm gebührt großer Dank.« Unter Berufung auf Fritz Bauer, der mit Blick auf den Frankfurter Auschwitz Prozess klagte, Deutschland würde aufatmen, wenn endlich ein menschliches Wort fiele, stellten sie fest, dass das Verfahren in Halle ein menschliches war.
Zum Schluss noch etwas zum Ablenken. Wie alle Jahre wieder, Thomas Mann, Weihnachten bei den Buddenbrooks, ergänzt mit den Rezepten des Weihnachtsmenüs, Fischer Taschenbibliothek, Fischer Taschenbuch, 2022, 96 S., 13,00 EUR.