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Editorial JA 7/2022

Von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, Universität Regensburg | Jun 27, 2022

Der russische Angriffskrieg

Russlands Angriffskrieg belegt, für wie wertvoll Menschen die Demokratie halten und wie Autokraten die Unfreiheit mit roher Gewalt durchsetzen

Seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Russischen Föderation am Morgen des 24.2. 2022 haben Völkerrecht und Völkerstrafrecht »Hochkonjunktur«. Während das Völkerrecht die Verhältnisse der Völkerrechtssubjekte – also vornehmlich der Staaten – regelt und die Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag verhandelt werden (dazu Payandeh JuS 2022, 465), richtet sich das Völkerstrafrecht allein an das Individuum, dessen Strafbarkeit je nach Sachlage nationale Gerichte, Hybrid Criminal Courts oder der Internationale Strafgerichtshof (IStGH; ebenfalls in Den Haag) beurteilen. IGH und IStGH haben also völlig unterschiedliche Zuständigkeiten.

In der juristischen Ausbildung sind Völkerrecht und Völkerstrafrecht noch Orchideenfächer, die die Mehrzahl der Studierenden, weil nicht Examensgegenstand, zwar sehr interessant finden, aber vorerst mal deshalb beiseitelassen, um sich auf das Examen zu konzentrieren. Persönlich wünschte ich mir wegen der enormen Bedeutung beider Rechtsgebiete, dass sie verstärkt zum Prüfungsstoff zählen.

Um Ihr Interesse zu wecken, sollen kurz einige der zentralen Fragen im Zusammenhang mit den kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine skizziert werden. 

Der russische Angriffskrieg als gravierender Verstoß gegen die Fundamentalnorm des modernen Völkerrechts, das Gewaltverbot, ist als eindeutiger Fall eines Angriffskriegs eine nicht gerechtfertigte Verletzung zwingenden Völkerrechts.

Hieraus ergeben sich unter anderem das Recht auf kollektive Selbstverteidigung, aber auch das Recht auf Gegenmaßnahmen. Das Völkerrecht gibt den westlichen Staaten weiten Raum für militärische Unterstützung und bei wirtschaftlichen Sanktionen.

Aber wann ist die Schwelle überschritten, welche den unterstützenden Staat zur Konfliktpartei macht? Die Frage, wann ein Staat zur Konfliktpartei wird, ist zur »Gretchenfrage« der NATO geworden. Die Grenzlinien zwischen Neutralität und kollektiver Selbstverteidigung sind rechtlich bislang nicht eindeutig gezogen. Die militärische Unterstützung einer Kriegspartei ist eine Gratwanderung zwischen völkerrechtlicher Neutralität und Konfliktteilnahme. Wäre es rechtlich zulässig und sogar auch politisch sinnvoll, die Russische Föderation aus den Vereinten Nationen und damit auch aus dem Sicherheitsrat auszugrenzen?

Zumal in modernen Industriestaaten kommt der Infrastruktur besondere Bedeutung zu. Das humanitäre Völkerrecht soll das Verbot eines Angriffs auf die Zivilbevölkerung und zivile Objekte absichern. Einen besonderen Schutz genießen dabei Einrichtungen des Gesundheitswesens wie zumal Krankenhäuser. Wenn Objekte der Infrastruktur zugleich auch militärisch genutzt werden, gilt zum Schutz der Zivilbevölkerung jedenfalls der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Das Kriegsgeschehen in der Ukraine wirft in rechtlicher, zumal beim Vorwurf von Kriegsverbrechen durch verbotene Kampfmethoden, aber auch in tatsächlicher Hinsicht schwierige völkerstrafrechtliche Fragen auf. Stets muss das konkrete Verbrechen aufgeklärt und der dafür Verantwortliche nicht nur identifiziert, sondern auch einem rechtsstaatlichen Strafverfahren zugeführt werden.

Zahlreiche Staaten und internationale Akteure wie Amnesty International oder Human Rights Watch bemühen sich, Beweismaterial für mögliche Kriegsverbrechen auf beiden Seiten zu sammeln. Der IStGH und Eurojust koordinieren eine gemeinsame Ermittlungsgruppe zu der sich Polen, Lettland, Litauen und die Ukraine zusammengeschlossen haben. Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe – unterstützt von den deutschen Nachrichtendiensten – führt seit 8.3. 2022 ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren zu den Vorkommnissen in der Ukraine. Dass Deutschland – im Gegensatz etwa zu Frankreich – keine eigenen Ermittler vor Ort hat, wird die Beweisführung in möglichen künftigen Strafverfahren in Deutschland erschweren. Allerdings verfügt die Bundesanwaltschaft bereits über Erfahrungen aufgrund mehrerer völkerstrafrechtlicher Verfahren. Und manchmal kommt den Ermittlern der Zufall zu Hilfe: Kurz nach dem Massaker in Butscha konnte der BND Funksprüche von russischen Soldaten in der Ukraine abfangen, bei denen sehr konkret über das Geschehen und sogar eigene Taten gesprochen worden sein soll.

In seinem bereits vor sieben Jahre erschienenen Buch »Entscheidung in Kiew« schildert Karl Schögel seine Einschätzungen und Prognosen, die sich lesen, als seien diese unter Eindruck der aktuellen Ereignisse geschrieben. Das sehr empfehlenswerte Buch, auf das ich leider erst jetzt aufmerksam wurde, schildert eindrucksvoll, wie Putin immer wieder erklärte, was er vorhat, sich nämlich Stück für Stück die alte Sowjetunion zurückzuholen. – Jedenfalls jetzt wäre es endlich an der Zeit aufzuwachen!
Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg,
Universität Regensburg

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