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Editorial JA 12/2021

Von Prof. Dr. Christian Wolf, Hannover | Nov 22, 2021

Weihnachtsbuchempfehlung der JA 2021


Im letzten Jahr sind in Deutschland 69.180 neue Buchtitel erschienen. Die Zeiten, in denen ein Mensch alle Bücher lesen konnte, die in Deutschland, geschweige in der Welt erschienen sind, sind längst vorbei. Wir alle bedürfen daher Intermediäre, welche uns in der Vielzahl der erschienenen Bücher Hinweise geben, auf Bücher aufmerksam machen. Dies können Freunde sein, eine Faculty Reading List, zB der Bucerius Law School, oder eben die Weihnachtsbuchempfehlung der JA. Hervorragende Dienste leisten auch Sortimentsbuchhandlungen mit ihren Buchhändlern. Hier kann man gleich in die Bücher reinlesen, denn nicht jedes Buch erschließt sich einem auf gleiche Weise.

echtswissenschaft ist wie viele Geisteswissenschaften abhängig vom Zeitgeist. Immer wieder müssen wir unser Rechtssystem neu vermessen, an die derzeit diskutierten Strömungen und Ideen anpassen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24.3. 2021 (1 BvR 2656/18 ua) steht exemplarisch hierfür. Die intertemporale Freiheitssicherung schützt die Grundrechte der noch sehr jungen Beschwerdeführenden, so das BVerfG, vor einer umfassenden Freiheitsgefährdung durch einseitige Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in der Zukunft. Ohne das Elfes-Urteil von 1957, welches erstmals die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) in einem umfassenden Sinne als Grundrecht dogmatisch herausgearbeitet hat, wäre die Entscheidung zu dem Klimaschutzgesetz nicht denkbar gewesen. Auf die Elfes-Entscheidung blickt Dieter Grimm in Verfassungsgerichtsbarkeit, Suhrkamp, 2021, 408 S., 24,00 EUR unter anderem zurück. Im September 1951 nahm das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe seine Arbeit auf. Das 70-jährige Jubiläum nimmt der Staatsrechtslehrer und ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm zum Anlass, unterschiedliche Aspekte der Verfassungsgerichtsbarkeit zu erklären. Das Spektrum der in dem Sammelband abgebildeten Themen reicht weit, von dem Verhältnis des Demokratieprinzips zur Verfassungsgerichtsbarkeit über die Verfassungsinterpretation bis zum Verhältnis von BVerfG zu Europa. Grimm gelingt es auf knapp zwei Seiten (S. 174 f.), die Unterscheidung von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis bei Hans Kelsen darzustellen. Sehr lesenswert!

Sehr lesenswert (wie alle Bände der Reihe C.H.Beck Wissen) ist auch der schmale Band von Angelika Nußberger, Die Menschenrechte, C.H.Beck, 2021, 128 S., 9,95 EUR. Nußberger blickt auf die Geschichte der Menschenrechte und der philosophischen Grundlagen, sie thematisiert den Wandel unseres Verständnisses der Menschenrechte. Mit wenigen Federstrichen beschreibt Nußberger das Eigentumsrecht als das wohl strittigste Menschenrecht und zeigt zugleich auf, dass Eigentumsrechte nicht nur soziale Ungleichheit verstärken, sondern innovativ interpretiert auch sozialrechtliche Ansprüche als Eigentumspositionen – in Grenzen – vor Streichungen schützen können.

Mit dem Thema Eigentumsrechte, genauer gesagt dem der Restitutionsansprüche, befassen sich auch die nächsten beiden Buchempfehlungen. Am 22.9. 2021 hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Ausstellungen des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum in Berlin eröffnet. Er erinnerte an die bis vor kurzem verdrängte Kolonialgeschichte Deutschlands: »Die Erinnerung an den Holocaust steht der empathischen und bewussten Erinnerung an andere Ungerechtigkeit, anderes Leid nicht entgegen!« Er forderte, dass sich Deutschland als ehemalige Kolonialmacht der Verantwortung stellt. Der Verantwortung stellen betrifft nicht nur den Völkermord an den Herero und Nama, sondern auch die Frage, wie mit den Artefakten in den Museen in Europa umzugehen ist. Seit dem Afrikanischen Jahr (1960) fordern afrikanische Intellektuelle und Politiker die Rückführung der Kulturgüter. Bénédicte Savoy, Afrikas Kampf um seine Kunst, C.H.Beck, 3. Aufl. 2021, 256 S., 24,00 EUR, beschreibt diesen Kampf um das kulturelle Erbe Afrikas und die stets ein auf das andere Mal mit dem gleichen Argument abgelehnte Rückgabe: Die Artefakte seien legal nach Europa gekommen. Die Argumentation bringt eine Karikatur von Ganiyu Jimoh Jimga auf den Punkt: Zwei afrikanische Artefakte mit der Aufschrift: »Africans illegally in Europe must leave. African objects illegally in Europe must stay.« und dem zusätzlichen Hinweis: »In Captivity since 1897. British Museum«. Abgedruckt ist die Karikatur in dem Buch von Merten Lagatz, Bénédicte Savoy und Philippa Sissis (Hrsg.), Beute, Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe, Matthes & Seitz, 389 S., 38,00 EUR. Ikonographisch wird in dem prächtigen Bildband das wechselhafte Leben der Artefakte zwischen Erwerb, Entwendung und Restitution veranschaulicht. Ein Buch zum Blättern.

Den kulturellen Verlust, den die Aneignung der afrikanischen Artefakte durch die westlichen Museen für den afrikanischen Kontinent bedeutet, kann man vielleicht erspüren, wenn man sich veranschaulicht, in welch kurzer Zeit im Februar 1933 nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler ein vibrierendes intellektuelles Leben in Deutschland ausgestorben ist. Uwe Wittstock, Februar 33, Der Winter der Literatur, C.H.Beck, 4. Aufl. 2021, 288 S., 24,00 EUR, beschreibt in seinem brillanten Buch, wie die Nationalsozialisten innerhalb eines einzigen Monats das literarische und intellektuelle Leben in Deutschland in Immigration, Anpassung oder Schutzhaft, der Vorläufer der späteren KZ, gebracht haben. Wittstock zeichnet die Entwicklung anhand der Ereignisse an 35 Tagen zwischen dem 28.1. und dem 15.3. 1933 nach. Der letzte Presseball in der Ullstein Lounge von Carl Zuckmayer, die Entscheidung Oskar Marie Grafs nach Wien auszuwandern, die Flucht Heinrich Manns am 22.2. bei Kehl nach Frankreich, die Diskussion auf den letzten Gesellschaften und Salons, die Literaten, Verleger und Diplomaten in Berlin unterhielt. Wenn man das Buch einmal in die Hand genommen hat, will man es nicht mehr weglegen, unbedingt lesenswert.

Schließlich noch zwei Buchempfehlungen, welche sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit den Krisen unseres Gemeinwesens befassen:

Moritz Schularick, Der entzauberte Staat, Was Deutschland aus der Pandemie lernen muss, C.H.Beck, 2021, 140 S., 14,00 EUR. Der in Bonn Volkswirtschaft lehrende Schularick beschreibt, wo und warum die Corona-Pandemie die Leistungsfähigkeit des Staats herausgefordert hat. Mit wenigen Sätzen beschreibt er, dass die Schuldenbremse nicht zwischen konsumtiven und investiven, langfristig angelegten Ausgaben unterscheidet. Obwohl mehr Ausgaben in Bildung, Umweltschutz, IT-Struktur erforderlich gewesen wären, hat unter anderem eine ideologische Verengung der Diskussion auf die Schwarze Null dies verhindert.

Katharina Pistor, Der Code des Kapitals, Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft, Suhrkamp, 2021, 440 S., 32,00 EUR. Die an der Columbia Law School lehrende Pistor hat ein überaus wichtiges, vielbeachtetes Buch vorgelegt. Unser tradiertes staatsrechtliches Bild sagt, dass die Gesetze von den demokratischen Gesetzgebungsorganen erlassen werden und so die Rechtswirklichkeit und unser Zusammenleben bestimmen. Pistor zeigt auf, dass sich die Rechtsordnungen in einer globalisierten Welt längst zu einem Cafeteria-System gewandelt haben und die Rolle der Rechtsanwälte zum Master of the Code.

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