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Editorial JA 9/2021

Von Prof. Dr. Christian Wolf, Hannover | Aug 20, 2021

Der Neunzehnten zum Abschied


Am 26.9. wird der 20. Bundestag gewählt, spätestens 30 Tage später ist der 19. Bundestag Geschichte, der neue Bundestag hat sich konstituiert. Fleiß kann man dem 19. Bundestag und mit ihm den Studierenden in jedem Fall bescheinigen. Eine Vielzahl von Novellierungen wurde beschlossen und musste in den Loseblattsammlungen nachsortiert werden. 78 öffentliche Anhörungen mit Sachverständigen führte der Rechtsausschuss im Rahmen der Gesetzgebungsverfahren durch. Zeit also für eine kurze rechtspolitische Bilanz.

Allein 27 Änderungen betrafen das BGB. Die beiden umfangreichsten Gesetzesänderungen wurden erst in diesem Jahr noch beschlossen. Die Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts sowie die Änderungen im Kaufrecht und die Einfügung eines neuen Titels 2a im dritten Abschnitt des 2. Buchs des BGB: Verträge über Digitale Produkte (§ 327 bis § 327u BGB). Letztere Änderung geht auf die Umsetzung von zwei EU-Richtlinien zurück. Überhaupt spielt das EU-Recht eine entscheidende Rolle. Von den 27 das BGB betreffenden Änderungsgesetzen gehen sieben unmittelbar auf EU-Richtlinien zurück. Europa gibt den Takt vor! Die rechtspolitische Initiative ging in diesen Fällen nicht vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz oder dem Bundestag aus, sondern von der EU.

Dort kommt der Kommission und den von ihr eingesetzten Experten eine entscheidende Rolle zu. Für die Rechtspolitik ist dies nicht unproblematisch. Recht ist immer auch politisch, es geht um die Austarierung und Bewertung unterschiedlicher Interessen, um politische Durchsetzungs- und Kompromissfragen. Auf der Ebene der EU agiert die Kommission mit ihren Experten aber, wie Ulrich Haltern es formuliert, in der Pose des objektiv neutralen Binnenmarktadministrators. Gleichzeitig wird für den Rechtsausschuss – bzw. den Bundestag, der am Ende die umgesetzten EU-Richtlinien politisch zu verantworten hat – der Entscheidungsspielraum immer kleiner. Dies trifft insbesondere zu, wenn eine Vollharmonisierung vorgeschrieben wird. So darf nach Art. 4 der Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen der dort festgelegte Standard weder durch ein höheres noch ein geringeres Schutzniveau unterlaufen werden. Viel Gestaltungsspielraum hat der Gesetzgeber da nicht mehr. Auch im Hinblick auf die Regelungstiefe kann im Grunde kein Unterschied zwischen einer EU-Verordnung und einer EU-Richtlinie mehr festgestellt werden.

Prägend für das BGB war die Abstraktion. Die abstrakten Regelungen sind der Ausgangspunkt für die juristische Dogmatik, um zu systematisieren muss das Gemeinsame in den Regelungen erkannt werden. In zunehmendem Umfang werden gesetzliche
Regelungen kleinteiliger und detaillierter. Paragrafen mit sechs oder sieben Absätzen sind keine Seltenheit mehr. Mit 4.374 Zeichen wird der Produktmangel in § 327e BGB beschrieben. Nur geringfügig mehr Zeichen hat dieses Editorial. Der europäische Justizraum ist, so liest man, von einem zunehmenden wechselseitigen Vertrauen geprägt. Die Detailversessenheit der Regelungen spricht aber eher eine Sprache des wechselseitigen Misstrauens.

Der Verbraucherschutz prägt die Rechtspolitik immer stärker, sowohl im materiellen Recht als auch im Verfahrensrecht. In Europa schon allein deshalb, weil die EU auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes Kompetenz hat (Art. 169 AEUV), auf nationaler Ebene Verbraucherschutz bürgerfreundlich sein soll. Was richtig verstandener Verbraucherschutz leisten sollte, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Bürgschaftsentscheidung mit wenigen Worten klar gemacht: »Da alle Beteiligten des Zivilrechtsverkehrs den Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG genießen und sich gleichermaßen auf die grundrechtliche Gewährleistung ihrer Privatautonomie berufen können, darf nicht nur das Recht des Stärkeren gelten … Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet die Privatautonomie als ›Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben‹ … Hat einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, daß er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, bewirkt dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung (vgl. BVerfGE 81, 242 (255))« (BVerfG NJW 1994, 36 Rn. 53 f.). Richtig verstandenes Verbraucherrecht sollte den strukturell schwächeren Verbraucher in die Lage versetzen, privatautonom zu handeln. Das Leitbild der Autonomie tritt aber zugunsten einer für den Verbraucher akzeptabel annehmbaren Lösung zurück. Man ersetzt die Fremdbestimmung des wirtschaftlich deutlich stärkeren Vertragspartners durch die paternalistische Fürsorge des Normgebers. »Was wir finden, dass gut für Dich ist, entspricht auch Deinem richtig verstandenen Willen.« – So die unausgesprochene Leitlinie.

Auch verfahrensrechtlich scheint das Ziel der Rechtspolitik zu sein, den Verbraucher mehr zum Objekt als zum Subjekt des Verfahrens zu machen. Fein ziselierte Verfahren am juristischen Hochreck will man, wo möglich, vermeiden. Der Verbraucher soll sich mit alternativen Streitschlichtungsverfahren zufriedengeben. Ziel ist nicht mehr, Rechte, die man für den Verbraucher  kreiert hat, auch vollständig durchzusetzen, eine Annäherung an den eigentlichen Anspruch soll ausreichend sein. Neue Online-Verfahren sollen geschaffen werden, mit Eingabemaske und nach Möglichkeit auch ohne Rechtsanwalt. Von hier aus gibt es eine unmittelbare Linie zum Verständnis der europäischen Normsetzung durch wissenschaftliche Experten. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften konstituiert sich Recht nicht durch Expertenerkenntnis, sondern durch das Ringen um die richtigen Wertungen im Dialog. Nur indem wir uns als Gleiche wechselseitig anerkennen, können wir Recht legitimieren, oder anders: Recht legitimiert sich sowohl im Normentstehungsprozess als auch vor Gericht durch das Verfahren.

Eine an der (Privat-)Autonomie orientierte Rechtspolitik muss dafür sorgen, dass sich die Parteien auch vor Gericht halbwegs auf Augenhöhe begegnen können. Setzt man, wie in dem neugeschaffenen Musterklageverfahren, den Streitwert herab, sodass die Klägeranwälte für ca. 7.000 EUR das Verfahren führen sollen, während die Beklagte die Kriegskasse mit mehrstelligen Millionenbeträgen prall gefüllt hat, verfehlt man genau dies. Für die 20. Legislaturperiode wünscht man sich eine an der Idee der Selbstbestimmung und Autonomie ausgerichtete Rechtspolitik.


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