Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Rennert, Präsident des Bundesverwaltungsgerichts a.D., Leipzig
Forschungsprojekt zur Frühzeit des Bundesverwaltungsgerichts
Im September 1952 wurde das Gesetz über das Bundesverwaltungsgericht erlassen, seit seinem Inkrafttreten im Oktober 1952 konnten Klagen und Rechtsmittel eingereicht werden, im Februar/ März 1953 (mit Vorlauf schon seit 1950 und zwei »Nachzüglern « erst im Sommer 1953) wurden die 20 Richter (darunter eine Richterin) der Erstbesetzung ausgesucht und gewählt, und am 8.6. 1953 wurde das Gericht in dem 1907 errichteten und kaum kriegsbeschädigten Gebäude des ehemaligen Preußischen Oberverwaltungsgerichts in der Hardenbergstraße in Berlin feierlich eröffnet. Die »Erstausstattung« mit nur vier Senaten und zwanzig Richtern erwies sich schnell als deutlich zu klein, die drückende Verfahrenslast erzwang zum Teil lange Erledigungszeiten, weshalb das Gericht bis Februar 1959 schrittweise auf acht Senate und 48 Richter erweitert wurde. Jetzt war das Gericht einigermaßen konsolidiert; in den 1960 er Jahren gelangte es in ruhigeres Fahrwasser.
Natürlich hatte jeder der 20 Richter der Erstbesetzung seine persönliche Vergangenheit aus den Jahren der Weimarer Republik, aus NS-Zeiten und den mittlerweile acht Nachkriegsjahren; bis auf vier Richter – darunter der erste Präsident Frege – hatten alle der NSDAP oder einer ihrer Organisationen angehört, einige waren, wie man heute weiß, erheblich belastet. Gleichwohl hat das Gericht gleich vom ersten Tage an eine wegweisende Rechtsprechung entfaltet, die sich um eine Implementation der neuen Ordnung des Grundgesetzes in Verwaltungsrecht und Verwaltungspraxis bemühte und dabei nicht nur zu den Grundrechten manches vorbereitete und vorwegnahm, woraus das Bundesverfassungsgericht dann 1957 und 1958 mit »Elfes«, »Lüth« und dem Apothekenurteil die Fundamente seiner Grundrechtsjudikatur entwickelte, sondern auch im Allgemeinen Verwaltungsrecht und im Verwaltungsprozessrecht etliche Weichen stellte, welche Praxis und Lehre auf Jahrzehnte hinaus prägten und noch heute nachwirken. Wie passt das zusammen? Waren in den persönlichen und beruflichen Biografien der Richter – fast alle zwischen 1892 und 1912 geboren – die Weimarer Jahre von größerer Prägekraft, die zwölf NS-Jahre eher Episode? Erlaubte die Ausbildung unter den Vorzeichen des kaiserzeitlichen Positivismus einen fachlichen Opportunismus, der das jeweilige Gesetz getreulich anwendete, die demokratischen oder nationalsozialistischen Vorzeichen aber ignorierte? Bringt vielleicht gar der juristische Beruf als solcher eine derartige Anpassungsfähigkeit mit sich? Oder hatte man gelernt, saß der Schock von Kriegszerstörung und Unmenschlichkeitserfahrung tief genug, um persönliche Reue und Umkehr zu motivieren? Vielleicht gab es ja auch ganz vordergründig-praktische Erklärungsmuster. Wirkte das Kollegialprinzip im Fünfersenat disziplinierend? Zwang die ungeheure Verfahrenslast zu rascher ideologieferner Sachlichkeit? Stellte gar die Anfangsmaterie – drei der zu Beginn vier Senate befassten sich nur mit Kriegsfolgesachen, Sozialrecht und Beamtensachen – keine wirklich grundsätzlichen Fragen?
Das Bundesverwaltungsgericht hat sich dieser Fragen angenommen. Es hat 2021 ein »Geschichtsprojekt« aufgelegt und sich drei Jahre lang gemeinsam mit dem »Georg-Jellinek-Zentrum für Staatswissenschaften und moderne Verwaltung» der Universität Leipzig mit seiner Gründungsgeschichte beschäftigt. Dabei zielte das Projekt nicht nur auf biographische Kontinuitäten, sondern auf die Etablierung eines neuen Gerichts in den 1950 er Jahren, den Jahren der frühen Bundesrepublik, in der gesamten Breite der Problemstellung von Errichtung und Konsolidierung. 20 Teilthemen von unterschiedlichem Gewicht und Umfang zeichnen ein umfassendes Bild, von der Vorbereitung und der Errichtung des Gerichts über die Rekrutierung des richterlichen Personals und sein Zusammenwirken in den Senaten bis hin zur inhaltlichen Rechtsprechung und deren Wirkung und Rezeption in Fachwelt, Politik und Öffentlichkeit. Die Teilthemen wurden von elf Mitautoren bearbeitet, sieben aktuellen oder ehemaligen Angehörigen des Gerichts und vier Universitätswissenschaftlern. Im April 2025 sind die Ergebnisse unter dem Titel »Geschichte des Bundesverwaltungsgerichts – Errichtung und Konsolidierung (1953–1959)« im Beck-Verlag erschienen. Das Buch gibt selbst keine abschließende Antwort auf die angesprochenen Fragen; das wäre auch kaum möglich. Es bietet aber umfangreiches und facettenreiches Material für diverse Antworten, je nach präziser Fragestellung. Mit Blick auf die einzelnen Protagonisten dürften die erwähnten Motive und Ursachen zusammengewirkt haben, durchaus in je unterschiedlicher Gestalt und Gewichtung. Für die Arbeit und den Erfolg des Gerichts insgesamt wenigstens gleich bedeutsam aber waren strukturelle Bedingungen, teils förderliche wie das Kollegialprinzip, teils hinderliche wie eine teilweise an sachfremden Kriterien ausgerichtete Personalauswahl, die für eine Anzahl fachlich oder persönlich weniger geeigneter Richter verantwortlich war. Insgesamt zeichnet das Buch ein differenziertes und tiefschürfendes Bild der Justizgeschichte der frühen Bundesrepublik und gibt zugleich manchen Aufschluss über Bedingungen und Funktionsweise eines Höchstgerichts in Deutschland.
Das »Geschichtsprojekt« verstand sich als ersten Teil eines vielleicht dreiteiligen Gesamtprojekts, dessen weitere Teile die Berliner Jahre des Gerichts bis 2002 erforschen sollen. Man darf gespannt sein, ob diese weiteren Teile folgen – es wäre dringend zu wünschen. Der erste Teil ist auch insofern vielversprechend und legt die Latte recht hoch.