Prof. Dr. Christian Wolf, Hannover
Weihnachtsbuchempfehlung der JA 2024
Recht entsteht aus politischen Setzungen. Recht bestimmt, wie wir unser Zusammenleben regeln und gestalten. Die Entstehung des Rechts als politische Setzung ist bestimmt von den ökonomischen Einstellungen und Bedingungen, dem historischen Wissen und den philosophischen Strömungen. Für die Auslegung gilt im Grunde nicht viel anderes. Der Gesetzgeber kann das Gericht bei der Entscheidung eines konkreten Falles nicht vollständig determinieren. Jeder richterlichen Entscheidung liegt ein bestimmtes Maß an Determinismus zugrunde. Zwar suchen wir dies durch die juristische Dogmatik so weit wie möglich einzuhegen, dies führt jedoch nicht dazu, dass nicht die Rechtsanwendung von den ökonomischen und philosophischen Strömungen und den historischen Erfahrungen mitbestimmt wird.
Aus gutem Grund fordert der Gesetzgeber in § 5a DRiG die Vermittlung der philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen unseres Rechtssystems. Dem soll, wie in jedem Jahr, die Weihnachtsbuchempfehlung der JA dienen. Die Auswahl ist – wie immer – nur beispielhaft zu verstehen und subjektiv. Die Bücher, die wir uns angeschaut haben, es aber aus Platzgründen nicht in das Editorial geschafft haben, veröffentlichen wir in Teil II dieses Editorials online. Wie immer gilt die Empfehlung, sich durch den Gang in eine Buchhandlung selbst einen Überblick zu verschaffen und sich inspirieren zu lassen.
Michael Grüttner, Talar und Hakenkreuz, Die Universitäten im Dritten Reich, 2024, C.H.Beck, 704 S., 44,00 EUR
In seiner Einleitung schrieb der Berliner Historiker Michael Grüttner, dass es die Universitäten in den fast 80 Jahren nach Kriegsende nicht eilig hatten, sich mit ihrer Geschichte im Dritten Reich zu befassen. Die kritische Traditionspflege fand erst in den letzten 20 Jahren statt. Grüttner schilderte, wie die nationalsozialistische Radikalisierung vom NS-Studentenbund ausging, der auch die Bücherverbrennung 1933 und den Boykott jüdischer Professoren organisierte. Lesenswert ist die Darstellung der Rechtswissenschaften im Dritten Reich und die Etablierung des Führerprinzips zB in Freiburg durch Heidegger. In einem Epilog geht Grüttner auf die Vergangenheitsbewältigung der Universitäten ein, deren Sensibilität für das Thema sich erst sehr spät entwickelte.
Zwei weitere Bücher dieser Buchempfehlung befassen sich mit der Vergangenheitsbewältigung.
Ansgar Klein/Ilona Ziok (Hrsg.), Fritz Bauer, Menschenrechte als Herausforderung von Rechtspraxis und Rechtspolitik, 2024, BUXUS Edition, 530 S., 19,00 EUR
Der Sammelband wurde aus Anlass der Eröffnung des Fritz Bauer Forums (https:// www.fritz-bauer-forum.de/) in Bochum zusammengestellt. Fritz Bauer gelang es, nach Dänemark im Dritten Reich zu immigrieren. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde er zunächst Landgerichtsdirektor in Braunschweig und 1950 Generalstaatsanwalt in Braunschweig. Von dort wurde er auf Betreiben des hessischen Ministerpräsidenten Georg-August Zinn als Generalstaatsanwalt nach Frankfurt berufen. In dem Sammelband wird das Wirken und die Person Fritz Bauer von unterschiedlichen Autoren gewürdigt. Im Zentrum der Wahrnehmung von Fritz Bauer steht der Frankfurter Auschwitz-Prozess. Die Rolle, die Fritz Bauer hier und bei der Verhaftung von Adolf Eichmann durch Israel spielte, wurde auch mehrfach filmisch gewürdigt. Weniger bekannt ist seine Rolle, noch als Generalstaatsanwalt in Braunschweig, in dem Remer-Prozess. Remer, der der »Star« der von ehemaligen NS-Funktionären gegründeten Sozialistischen Reichspartei war, bezeichnete bei einer Kundgebung in Braunschweig, die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 als Landesverräter. Norbert Wolf, einer der Nachfolger von Fritz Bauer als Generalstaatsanwalt in Braunschweig, stellt das Verfahren und die Rolle von Fritz Bauer in dem Sammelband dar. So setzte Fritz Bauer die Bezeichnung Unrechtsstaat für das Dritte Reich dar und schuf damit die richtige Einordnung für den Widerstand. Der erste Bundespräsident Theodor Heuss weigerte sich 1950 anerkennende Worte über die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 zu sprechen, worauf Wolf hinweist.
In dem Sammelband finden sich eine Reihe von Beiträgen zum Wirken und zur Rezeption von Fritz Bauer unter anderem in Büchern und Filmen.
Norbert Frei, Im Namen der Deutschen, Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit, 2023, C.H.Beck Verlag, 377 S., 28,00 EUR
Der Jenaer Historiker Norbert Frei hat sich mit diesem Buch der Rolle der Bundespräsidenten von Theodor Heuss bis Richard von Weizäcker gewidmet. Das Buch zeichnet die unterschiedliche Rolle der Bundespräsidenten bei der deutschen Vergangenheitsbewältigung nach. Die heutige Generation der Studierenden kann die Rede Richard von Weizäckers vom 8. Mai 1985, in der Weizäcker den Tag der Kapitulation des Dritten Reichs als den Tag der Befreiung von dem menschenverachteten System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bezeichnet, nur noch aus Geschichtsbüchern kennen. Dies allein rechtfertigt die Buchempfehlung hier. Frei schließt das Buch mit folgendem Satz ab: »Was als unabschließbare Aufgabe bleibt, ist die glaubwürdige Verkörperung jener Bereitschaft, aus der Vergangenheit zu lernen, der sich die Gründung der Republik verdankt.«
Der Verfassungsblog hat das Thüringen-Projekt ins Leben gerufen. Es geht um die Resilienz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit (https://verfassungsblog.de/ thuringen-projekt/). Zwei Bücher zu dem Thema sollen hier kurz vorgestellt werden:
Maximilian Pichl, Law statt Order, Der Kampf um den Rechtsstaat, 2024, Suhrkamp Verlag, 288 S., 18,00 EUR und Ulrich Menzel, Wendepunkte, Am Übergang zum autoritären Jahrhundert, 2023, Suhrkamp Verlag, 349 S., 20,00 EUR
Beide Bücher befassen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit dem Erstarken autoritärer Strukturen. Pichel (sehr lesenswert ist die kurze und prägnante Darstellung der Begriffe Rechtsstaat, rule of law und état légal, die im englischen und französischen Modell immer eng mit der Demokratie verbunden waren) legt den Fokus auf Deutschland und Europa, während Menzel den Blick in die Welt einer entzauberten Globalisierung weitert.
Globalisierung ist auch das Thema der beiden letzten Buchempfehlungen.
Johannes Plagemann/Henrik Maihack, Wir sind nicht alle, Der globale Süden und die Ignoranz des Westens, 3. Aufl. 2024, C.H.Beck Verlag, 249 S., 18,00 EUR
Wir leben immer noch in dem Bewusstsein einer eurozentristischen Welt, einschließlich den USA. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich bei uns die Einstellung herausgebildet, wir leben dauerhaft in einer unipolaren Welt mit den USA im Zentrum. Der Washingtoner Konsens der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) hat im globalen Süden eine Reihe von marktradikalen Reformen erzwungen, die insbesondere zu einer Verarmung der den jeweiligen Staat tragendenden Mittelschicht geführt haben. So lesen die beiden Autoren auch den Jihād als Antwort auf diese zur Verarmung breiter Schichten führenden Politik des Washingtoner Konsens. Gleichzeitig brach die westliche Dominanz ein. Die BRICS-Staaten sind ein Beleg für diese Entwicklung. Das hervorragend geschriebene Buch ist ein must read, wer die gegenwärtige Entwicklung zu einer multipolaren Welt verstehen will.
Florence Braunstein/Jean-François Pépin, 1 Kilo Kultur, Das wichtigste Wissen von der Steinzeit bis heute, 2. Aufl. 2020, C.H.Beck, 1296 Seiten, 15,00 EUR
Das bereits 2020 erschienene Buch ist nach wie vor eine Empfehlung wert. Wenn es gut läuft, hat man im Geschichtsunterricht etwas von Cäsar und dem gallischen Krieg mitbekommen, jedenfalls bei Asterix. Über die Skythen zu deren Kultur erfahren wir in der Regel genauso wenig, wie über den politischen Buddhismus in Japan zur Zeit der Nara (710 – 794). In kurzen Abschnitten entfaltet das Buch ein Kaleidoskop der Welt. Das Buch löst das Versprechen des Titels ein und macht uns deutlich, dass wir nicht alle sind.