Prof. Dr. Rüdiger Rubel, Frankfurt a.M.
Kommt der Baurechtsturbo?
Gerade bin ich von einer Tagung zurück, die sich mit aktuellen Problemen des Städtebaurechts beschäftigt hat. Beherrschendes Thema für Wissenschaft und Praxis war die von der Bundesregierung Anfang September beschlossene Novelle des Baugesetzbuchs, die bereits zu Beginn des nächsten Jahres das Gesetzgebungsverfahren durchlaufen haben soll.
Wieder einmal eine Änderung des Baurechts, und eine lange dazu: Die Drucksache umfasst annähernd 200 Seiten. Und das nach sechs vorangegangenen Baurechtsänderungen, die in dieser Legislaturperiode bereits stattgefunden haben. Der historische Gesetzgeber des Bundesbaugesetzes von 1960 würde sein später Baugesetzbuch genanntes Werk wohl gar nicht mehr wiedererkennen. So haben die zentralen Vorschriften über die Zulässigkeit von Vorhaben (§§ 29–36 BauGB) seitdem ihren Umfang etwa vervierfacht. Sollte nicht alles einfacher, schlanker und unbürokratischer werden?
»Das Bauplanungsrecht ist einem hohen Reformdruck ausgesetzt« heißt es gleich zweimal an hervorgehobener Stelle in der Entwurfsbegründung – wie zur Entschuldigung, aber in der Sache völlig zutreffend. Von den Altvorderen hört man bisweilen: »Früher ging es beim Bauplanungsrecht nur um das Bauen, heute soll die ganze Welt gerettet werden.« Dazu besteht allerdings aller Anlass: Der Klimawandel ist zwar eine globale Erscheinung, Maßnahmen zu seiner Abschwächung (vor allem durch Reduzierung des CO2-Ausstoßes) und zur Vermeidung oder Abschwächung seiner Auswirkungen (durch Schutz vor Hochwasser, Starkregenanfall und Hitze) müssen jedoch vor allem auf lokaler Ebene und dort in erster Linie mithilfe bauplanerischer Instrumente (wie der Festsetzung von Retentionsflächen, Regenrückhaltebecken oder Dachbegrünung) ergriffen werden. Aktueller Reformdruck geht aber auch von drängenden Entwicklungen im nationalen Bereich aus: Wohnungen fehlen vor allem in Ballungsgebieten in großer Zahl, die Innenstädte erleiden durch Internet und Versandhandel erhebliche Funktionsverluste und der Angriff Russlands auf die Ukraine hat die sichere Energieversorgung vor neue Herausforderungen gestellt.
Den zunehmenden Reformerwartungen an das Bauplanungsrecht ist der Gesetzgeber in der Vergangenheit regelmäßig mit der Aufnahme neuer öffentlicher und privater »Belange« begegnet, die bei der Aufstellung der Bauleitpläne im Rahmen der planerischen Abwägung zu »berücksichtigen« sind. Das hat zu einer starken Ausweitung des Katalogs des § 1 VI BauGB geführt und die Arbeit der Kommunen nicht erleichtert, zumal die Verfolgung der in § 1 V BauGB genannten Ziele der Bauleitplanung vielfach Widersprüche und Konflikte hervorruft: So verlangt mehr Wohnungsbau nach mehr Flächen, die aber nur durch Verdichtung der Bebauung im Innenbereich oder zulasten des freien Außenbereichs gewonnen werden können, was wiederum Maßnahmen des Klima-, Umwelt- oder Naturschutzes oder der Energiesicherung konterkariert. Diese Komplexität der Planung lässt zumal kleinere Gemeinden mit geringen Personalressourcen oft unsicher und ratlos zurück. Woran soll man sich orientieren und welche Prioritäten können und müssen gesetzt werden?
Der Gesetzgeber ist in einer Zwickmühle. Neuer Regelungsbedarf und die Forderung nach Beschleunigung und Vereinfachung der Planungs- und Genehmigungsverfahren widersprechen sich, und die Vorgabe eines Handlungsrahmens für die Kommunen kann von diesen schnell als Eingriff in ihre Planungshoheit verstanden werden.
Die Novelle versucht, möglichst vielen Erwartungen Rechnung zu tragen. Orientierung und Struktur für ihre planerischen Entscheidungen sollen die Kommunen durch eine Neusystematisierung der planerischen Abwägung und deren Rückbindung an die in der Neuen Leipzig-Charta formulierten Ziele der sozial gerechten, grünen und produktiven Städte und Gemeinden erhalten. Darüber hinaus will der Gesetzgeber an zahlreichen Stellschrauben drehen: Der formale Planungsaufwand für die Gemeinde wird etwas reduziert, Maßnahmen der Klimaanpassung und zur Innenentwicklung werden gestärkt, die Instrumente zum effektiveren Einsatz für die Schaffung von Wohnraum wie etwa Vorkaufsrecht und Baugebot erweitert.
»Alles nur Feinjustierungen, die den Reformdruck nicht beseitigen« tönen zahlreiche Kritiker. Ihre größte Hoffnung zielt deswegen auf den lange umstrittenen »Baurechtsturbo« (§ 246e des Entwurfs). Er wurde erst im letzten Moment noch in die Novelle aufgenommen und soll vor allem im unbeplanten Innenbereich ein effektives und kurzfristig wirkendes Sonderrecht zur Genehmigung von mehr Wohnraum schaffen. Danach kann zur Schaffung von Wohnraum von den Vorschriften des BauGB abgewichen werden, allerdings nur in Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt, mit Zustimmung der Gemeinde, nur im erforderlichen Umfang, unter Berücksichtigung nachbarlicher Interessen und bei Vereinbarkeit mit den öffentlichen Belangen sowie unter Einhaltung drei weiterer Voraussetzungen und Konkretisierungen des Vorhabens. Ob ein solcher Turbo wirklich anspringt, wird von manchen bezweifelt. Und einfacher macht er die Rechtsanwendung wegen seiner zahlreichen Anwendungsvoraussetzungen auch nicht. Aber ließe sich ein weitergehender Kahlschlag bisher geltender formaler und materieller Genehmigungsanforderungen wirklich rechtfertigen, zumal die hohen Baukosten, die den Wohnungsbau derzeit hemmen, dadurch nicht beseitigt würden?
Die Baurechtsnovelle und speziell der Baurechtsturbo zeigen das Dilemma der Gesetzgebung in Zeiten krisenhafter Entwicklungen – nicht nur im Bauplanungsrecht. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und damit die Möglichkeit abrupter oder einschneidender Richtungswechsel ist begrenzt: sei es aus politischen Gründen, die bei der Mehrheitssuche ungeliebte Kompromisse erforderlich machen, sei es aus rechtlichen Gründen, weil Unionsrecht oder Verfassungsrecht Grenzen setzen. Das mag man bisweilen bedauern, wenn man bessere Lösungen für möglich hält, sichert aber den demokratischen Prozess und sorgt im Ergebnis regelmäßig für ausgewogene und wie im Fall des Baurechtsturbos verhältnismäßige Lösungen.
Was hat das alles mit der juristischen Ausbildung zu tun? Eine pragmatische Antwort lautet: Suchen Sie rechtzeitig die für die examensrelevanten Fragen im Baurecht grundlegenden Regelungen heraus, insbesondere in den zunehmend unübersichtlich werdenden §§ 29–36 BauGB. Das spart wertvolle Zeit in der Klausur. Eine weitere: Wenn Sie schon immer einmal verstehen wollten, was planerische Abwägung bedeutet und wie sie funktioniert, finden Sie in den §§ 1–2 des Entwurfs eine instruktive und lehrbuchreife Darstellung. Zum dritten: Nutzen Sie die Möglichkeit, in der praktischen Studienzeit, im Referendariat oder auch in einer beruflichen Station unmittelbare Einblicke in die Gesetzgebung zu bekommen. Das wird Sie davor bewahren, im Beruf oder bei der Teilnahme am politischen Diskurs leichtfertig in das verbreitete Lamento vom unfähigen Gesetzgeber und vom unzureichenden demokratischen Entscheidungsprozess zu verfallen.
In Sachen Bauplanungsrecht wird trotz aller gesetzgeberischen Bemühungen auch weiterhin gelten: Nach der Novelle ist vor der Novelle. Zwei bis drei könnten es in dieser Legislaturperiode noch werden. Genug Stoff nicht nur für die nächste Tagung.