Professor Dr. Dr. h.c. Stefan Muckel, Universität zu Köln
75 Jahre Grundgesetz – ein Geburtstag, der in die Zukunft schaut
Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verkündet und trat am darauf folgenden Tag in Kraft. Es ist vor allem durch zweierlei gekennzeichnet: Es konstituiert den deutschen Staat föderal, und es ist liberal, indem es an vorderer Stelle die Rechte des Einzelnen aufführt und ihn vor dem Staat schützen möchte. Der Einzelne steht im Zentrum dieser Verfassung. Deshalb lautet der erste Satz des ersten Artikels: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« So sieht das Grundgesetz sich deutlich gegen die unheilvolle Staatsordnung des Nationalsozialismus positioniert. Zugleich folgt es der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom Dezember 1948, die in ihrem Art. 1 alle Menschen »frei und gleich an Würde und Rechten geboren« versteht. Die Menschenrechtsidee ist allerdings viel älter und hat in Europa vor allem in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 früh ihren Ausdruck gefunden. Darin heißt es in großer inhaltlicher Nähe zum heutigen Verständnis von Art. 2 I GG: »Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet.« Aber wer schützt die Freiheit? Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte sah insoweit die Volksvertretungen in der Pflicht (Art. 2). Es hat sich aber gezeigt, dass auch demokratisch gewählte Parlamente die Grund- und Menschenrechte verletzen können. Das zeigt nicht nur die Geschichte. Auch in der Europäischen Union sind in den vergangenen Jahren Parlamente gewählt worden, die Freiheitsrechte der Bürger beschränken, um die politischideologischen Ziele einer rechtspopulistischen Mehrheit zu erreichen. Das Grundgesetz verlässt sich nicht auf die Volksvertretung, sondern sieht zum Schutz der Grundrechte vor allem die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht vor. Sie war zunächst (ab 1951) nur im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt und gelangte erst 1969 in die Verfassung (Art. 93 I Nr. 4a GG). Erst das Bundesverfassungsgericht hat die Bindung auch des Gesetzgebers an die Grundrechte nach Art. 1 III GG ernst genommen und die Grundrechte in einer Weise ausgeformt, wie es 1949 noch niemand vorhergesehen hat. Heute geht es darum, das Gericht vor dem Parlament zu schützen. Schon eine rechtsgerichtete Minderheit im Deutschen Bundestag, die größer wäre als ein Drittel der Abgeordneten, könnte die Wahl neuer Richterinnen oder Richter für das Bundesverfassungsgericht blockieren. Aber es kann noch schlimmer kommen: Eine einfache Mehrheit im Bundestag kann nach gegenwärtiger Rechtslage die näheren Vorgaben für das Bundesverfassungsgericht, etwa das Bestehen von zwei Senaten und die Amtszeit der Richterinnen und Richter, aber auch das Verfahren der Richterwahl weitreichend ändern. Daher ist mit Recht vorgeschlagen worden, Vorschriften, die bislang nur einfachen Rechts sind (§§ 2 ff. BVerfGG), in das Grundgesetz aufzunehmen und sie dabei so zu ergänzen, dass eine Minderheit von mehr als einem Drittel der Abgeordneten des Bundestags die Wahl neuer Richterinnen und Richter nicht dauerhaft blockieren kann. Dazu kann zum Beispiel im Grundgesetz bestimmt werden, dass das Bundesverfassungsgericht sich im Falle einer Blockade im Bundestag selbst ergänzen kann, indem es frei gewordene Richterstellen eigenständig besetzt. Das Vorgehen der PiS-Partei in Polen gegen das Oberste Gericht des Landes, aber auch die Ernennung konservativer Richter und einer Richterin für den US Supreme Court zeigen, wie bedeutsam die näheren Vorschriften zum Bundesverfassungsgericht einmal werden könnten. Es geht aber nicht nur um das Bundesverfassungsgericht. Das Grundgesetz und der von ihm geformte liberale Rechtsstaat brauchen weit mehr, um die Erfolgsgeschichte der ersten 75 Jahre in der langen Tradition des westlichen, freiheitlichen Verfassungsstaates fortsetzen zu können. Die freiheitliche Ordnung ist vor allem darauf angewiesen, dass die Mehrheit der Menschen hinter ihr steht und sie notfalls auch verteidigt gegen Extremisten und/oder Populisten, die sich anschicken, sie auszuhöhlen. Verfassungsfeinde auf der rechten Seite des politischen Spektrums stellen heute die größte Bedrohung für die Freiheit dar. Sie versprechen den Menschen einfache Lösungen in kompliziert gewordenen Zeiten. Dass die Versprechen ganz überwiegend nicht eingelöst werden können, erkennen viele nicht. Die Komplexität der Zusammenhänge, aber auch manche Tücke digitaler Kommunikation fügen sich zu einem guten Nährboden für Verschwörungstheorien. Auch das Ende der Weimarer Verfassung hat mit Halbwahrheiten und Verschwörungstheorien zu tun, etwa der sog. Dolchstoßlegende, der zufolge politisch linke Kräfte die militärische Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg bewirkt haben sollen. Solcher Unfug hatte einen beträchtlichen Anteil an der politischen Gewalt während der Weimarer Republik – bis hin zur Ermordung missliebiger Protagonisten des öffentlichen Lebens, unter ihnen die Reichsminister Matthias Erzberger und Walter Rathenau. Auch heute werden wieder Politiker bedroht. Die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke war ein erstes Fanal. Kommunalpolitiker werden immer häufiger derart drangsaliert, dass sie ihr Amt aufgeben. Offenbar brauchen auch Politiker Schutz und Rückhalt in der Bevölkerung. Das Grundproblem des demokratischen Verfassungsstaates besteht darin, dass er im Ansatz seine eigene Zerstörung ermöglicht. Indem er sich dem Willen der Mehrheit fügt, gerät er in höchste Gefahr, wenn die Mehrheit seine Feinde wählt. Die Demokratie des Grundgesetzes ist als wehrhafte konzipiert. Doch auch als solche ist sie auf die Mehrheit der Bürger angewiesen und darauf, dass diese Mehrheit sie erhalten will. Eine verfassungsfeindliche Mehrheit im Parlament kann leicht dafür sorgen, dass die Instrumente wehrhafter Demokratie unangewendet bleiben oder leerlaufen. Vielbesuchte Demonstrationen im Frühjahr gegen Rechtsextremisten und ihre verquasten »Remigrations«-Pläne lassen darauf schließen, dass die Mehrheit in Deutschland die freiheitliche Ordnung zu schätzen weiß und erhalten möchte. Darin dürfte der wesentliche Unterschied zwischen der Weimarer Zeit und heute bestehen: Die Mehrheit denkt und fühlt demokratisch-freiheitlich. Aber es besteht kein Grund, sich beruhigt zurückzulehnen. Jede und jeder von uns ist aufgerufen, die Demokratie zu verteidigen – zu Hause am Küchentisch und in der Kneipe, aber auch in social media, in politischen Parteien, auf Demonstrationen und nicht zuletzt auf dem Wahlzettel. Wir dürfen nicht zulassen, dass die beste deutsche Verfassungsordnung nach 75 Jahren von Scheindemokraten zersetzt und entwertet werden kann.