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Editorial JA 11/2023

Prof. Dr. Dr. Oleksandr Bilash, Universität Uschhorod (Ukraine), ständiger Gastprofessor an der Karls-Universität in Prag, Gastforscher am Institut für Religionsrecht der Universität zu Köln (2022–2023)

Quo vadis, Ukraine? Oder ist es richtiger zu fragen: Wohin wollen die Ukrainer kommen?

»Slawa Ukrajini (Ruhm der Ukraine)!« – diese gängige Grußform ist nach dem 24.2.2022 als Ausdruck des Widerstands bei internationalen Protesten gegen den Krieg in der Ukraine nun weltweit bekannt. Aber das war nicht immer so. Die Aussetzung der Vorbereitungen für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der Europäischen Union durch die ukrainische Regierung, das hohe Maß an sozialer Ungerechtigkeit, die enorme Polarisierung der Einkommen und des Lebensstandards in der ukrainischen Bevölkerung, die grassierende Korruption, die die Exekutive und die Justiz sowie die Strafverfolgungsbehörden durchdringt, waren die Hauptgründe für die Massenproteste der Zivilbevölkerung im Jahr 2014 (Euromaidan) im Kampf für die europäische Integration der Ukraine. Die Träume der Ukrainer vom Beitritt des Landes zur Europäischen Union waren verbunden mit der Hoffnung auf die Durchführung der notwendigen Reformen und die Umsetzung der EU-Standards, mit dem Wunsch nach funktionierenden demokratischen Institutionen, einer entwickelten Marktwirtschaft, der Einsicht in die Notwendigkeit zur Anpassung der nationalen Gesetzgebung an den europäischen Rechtsraum und der erwarteten Unterstützung bei der Ausmerzung der Korruption. Nach dem Maidan schien all dies möglich.

Die Annexion der Krim durch die Russische Föderation im Februar/März 2014, die Feindseligkeiten im Donbass, die im April desselben Jahres begannen, sowie die Unfähigkeit der ukrainischen Behörden, rechtzeitig die notwendigen Entscheidungen zu treffen, um das Land wirksam zu reformieren und die Korruption auszumerzen, haben jedoch viele europäische Integrationsprozesse in der Ukraine für einige Zeit zum Stillstand gebracht. Zugleich ist die Erfahrung der europäischen Integration der Ukraine unter Kriegsbedingungen einzigartig. Nach einer umfassenden militärischen Invasion in der Ukraine durch die Russische Föderation am 24.2.2022, die enorme menschliche, finanzielle und wirtschaftliche Verluste zur Folge hatte, erhält die Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten (2022), und in der ukrainischen Bevölkerung wächst die Zahl derer, die einen Beitritt der Ukraine nicht nur zur EU, sondern auch zur NATO befürworten. In diesem Fall ist auch die klare und konsequente politische wie diplomatische Solidarität der EU mit der Ukraine sowie ihre militärische, finanzielle, wirtschaftliche und humanitäre Unterstützung für die Ukraine und die Ukrainer zu erwähnen. Deutschland war eines der ersten Länder, das die Ukraine unterstützt hat und dies auch weiterhin tut, in Form von humanitärer Hilfe, Direktzahlungen und Waffen. Putins Eroberungskrieg gegen die Ukraine verursacht entsetzliches Leid. Unzählige Menschen haben bereits ihr Leben und ihre Angehörigen verloren, und viele Ukrainer mussten wegen des Krieges aus ihrer Heimat fliehen. Allein Deutschland hat bis heute über eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Der Krieg wird zu Ende gehen, aber die Ukrainer werden ihn nie vergessen und Deutschland und dem deutschen Volk dankbar sein.

Wenn jetzt immer häufiger einzelne Stimmen zu hören sind, dass man verhandeln und die besetzten ukrainischen Territorien im Gegenzug für den Frieden (und die NATO- und EU-Mitgliedschaft) an Russland übergeben müsse, dann glauben Sie mir, dass dies nur eine kurze Unterbrechung in Russlands Krieg und Plänen sein könnte. In einigen Jahren wird der Krieg weitergehen, und zwar höchstwahrscheinlich schon auf dem Gebiet der EU, in Polen und den baltischen Staaten. Immer öfter hört man im europäischen Raum von der gescheiterten Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte, von dem langsamen Vormarsch und der Unfähigkeit, Territorium zurückzugewinnen. Aber was hat es die Ukrainer gekostet, einfach nur durchzuhalten und die russische Armee daran zu hindern, weiter vorzurücken! Das sind Zehntausende von Opfern und Hunderttausende von Verwundeten. Und selbst unter sehr ungleichen Bedingungen konnte die Ukraine mehr als die Hälfte der nach dem 24.2.2022 von Russland eroberten Gebiete zurückgewinnen. Viele meiner ehemaligen und jetzigen Studenten sind jetzt an der Front. Einer von ihnen, Vladyslav Svyryda, hat sich nach zwei Jahren Studium an der Fakultät beurlauben lassen und sich als Freiwilliger gemeldet. Am 9.8.2023 starb er bei einem Kampfeinsatz in der Region Luhansk. Meine Schwester und ihre beiden Kinder nahmen im Frühjahr 2022 den letzten Zug von Odessa nach Uzhgorod. In einem Abteil, das für vier Personen ausgelegt war, fuhren neun Personen mehr als 20 Stunden lang, und viele ließen ihre Koffer auf dem Bahnsteig stehen, damit andere Flüchtlinge in den Zug einsteigen und im Stehen fahren konnten. Die Familie meines Bruders ist jetzt in der Tschechischen Republik. Meine Eltern weigerten sich, Odessa zu verlassen, und das Schlimmste war, im Internet von einem weiteren Bombenangriff auf Odessa zu lesen, zumal es während der sog. Stromsperren keine Kommunikation mit meinen Eltern gab. Ich bin in Deutschland, in Köln. Ich arbeite weiter, dank der Unterstützung meines Freundes Stefan Muckel und eines Stipendiums der Volkswagen- Stiftung. Und ich unterrichte online für ukrainische Studenten, sowohl in der Ukraine als auch in der ganzen Welt verstreut. Unser Leben hat sich dramatisch verändert, und ich kann Ihnen versichern, dass es Millionen von Ukrainern gibt, die täglich Raketen-, Luft- und Artillerieangriffen sowie Drohnenangriffen auf zivile Objekte ausgesetzt sind und in Luftschutzkellern und anderen Kellern schlafen; Millionen von Ukrainern, die gezwungen waren, aus ihrer Heimat in andere, sicherere Regionen und Länder, einschließlich Deutschland, zu fliehen; Hunderttausende, die obdachlos und weit weg von ihren Familien sind; Hunderttausende von Soldaten und Freiwilligen; Tausende von ukrainischen Kindern (von denen viele bereits adoptiert wurden), die entführt und nach Russland oder Weißrussland deportiert wurden; jeder von uns Ukrainern wünscht sich von ganzem Herzen ein Ende des Krieges. Ein Krieg, der vom alternden Führer eines despotischen russischen Regimes begonnen wurde, das die Sowjetunion in ihren schlimmsten Traditionen wiederbeleben will. Aber eine unabhängige Ukraine möchte Teil der europäischen Familie sein. Und zwar nicht, weil es wirtschaftlich besser ist, in der EU zu leben, sondern weil wir uns nicht anders fühlen, uns nicht anders sehen und wahrnehmen: Das ukrainische Volk hat eine europäische Identität. Ein Krieg kann die Völker Russlands und der Ukraine nicht näher zusammenbringen. Mit dem Angriff auf die Ukraine hat Russland die Ukraine endgültig verloren. Wohin gehen wir? Wir sind Ukrainer. In die Zukunft. Rechtsstaatlich. Demokratisch. Europäisch. Es kann nicht anders sein. Zu viele Opfer sind bereits gebracht worden und werden in diesem Krieg noch gebracht werden.

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