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Editorial JA 9/2023

Prof. Dr. Christian Wolf, Universität Hannover

(Juristische) Bildung. Alles, was man wissen muss

1999 erschien das Buch »Bildung. Alles, was man wissen muß« von dem zwischenzeitlich verstorbenen Hamburger Professor für Englische Literatur Dietrich Schwanitz. Auf 527 Seiten führt Schwanitz seine Leser durch die europäische Bildungsgeschichte. Angefangen bei dem Auszug der Israeliten aus Ägypten 1250 v. Chr. bis zur Wiedervereinigung Deutschlands 1989/1990 erfolgt eine Tour d’Horizon durch Geschichte, Literatur, Kunst, Musik und Philosophie. Schwanitz Buch ist flott geschrieben und hält überraschende Einblicke parat. Sehr lesenswert ist, wie er Shakespeare als den Meister der sprachlichen Kernfusion beschreibt. Wie überhaupt ist die Darstellung der wichtigsten und einflussreichsten Werke der Literatur hoch instruktiv. Geschichte besteht nicht nur aus einer Aneinanderreihung von Fakten. So hält Schwanitz auch Erklärungsmodelle parat. Zum Beispiel wie die von Bismarck verfassungswidrig durchgeführte Heeresreform nach dem gewonnenen Krieg von 1866 gegen Österreich und der Gründung des Norddeutschen Bunds in der Spaltung der Liberalen in Nationalliberale und demokratische Liberale mündete.

Schwanitz Buch hat, als es erschienen ist, aber nicht nur Zustimmung erfahren. Eine feuilletonistisch-wissenschaftliche Darstellung ohne Fußnoten ist in Deutschland nach wie vor eher ungewöhnlich. Auch lässt sich jede Bildung eines Kanons infrage stellen: Warum wurde dieser Roman aufgenommen und nicht jener, warum jener historische Umstand und nicht dieser?

Der Hintergrund des Buchs von Schwanitz war der Verlust eines sicheren Wissens, welches man in den Vorlesungen und Seminaren voraussetzen konnte, auf welches man aufbauen konnte. Aber lässt sich unser Wissen noch wirklich zu einem verbindlichen Kanon zusammenfassen?

Eine Liste (Kanon) von Büchern, Bildern oder Musikstücken, mit denen man sich auseinandergesetzt hat, funktioniert schon deshalb nicht mehr, weil die Liste ständig größer werden müsste, da neue Werke erschaffen werden. Auch sind unsere Informationsquellen heute deutlich pluralistischer geworden, man könnte auch sagen unübersichtlicher. Wir informieren uns vielfach aus dem Internet, wir googeln, lesen bei Wikipedia nach, sehen und hören uns bei YouTube um oder informieren uns bei LinkedIn und Twitter. Da weder Twitter noch LinkedIn über eine Qualitätskontrolle verfügen, ist das Erkennen von wirklich Wissenswertem höchst schwierig. Verbindlich zu entscheiden, was man wissen soll, geht eigentlich nicht mehr. Gleichviel besteht zumindest eine latente Erwartungshaltung, was man alles wissen soll.

Haben wir angesichts des beschriebenen Dilemmas als Juristen nicht Glück? Wir sind im Grunde eine praktische Wissenschaft, bestenfalls eine »kleine Geisteswissenschaft«. Wir kommen doch im Alltag ganz mit unserer methodisch geschulten Subsumtionstechnik für die Fallbearbeitung durch.

Juristisch lässt sich dem zunächst normativ entgegenhalten: Gegenstand des Studiums und damit auch der Prüfung sind auch »philosophische[n], geschichtliche[n] und gesellschaftliche[n] Grundlagen; die Vermittlung der Pflichtfächer erfolgt auch in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur« (§ 5a II 2 DRiG). Und weiter: »Die Inhalte des Studiums berücksichtigen die ethischen Grundlagen des Rechts und fördern die Fähigkeit zur kritischen Reflexion des Rechts« (§ 5a III 1 DRiG).

Zugegeben, in den Examensklausuren lässt sich dies nur schwer und nicht immer gut abprüfen. In der mündlichen Prüfung sieht dies hingegen ganz anders aus. Und hier werden zum Teil auch von Prüflingen mit guten Klausuren ganz erhebliche Lücken offenbart. Lücken sowohl in Bezug auf juristische Kulturtechniken als auch in Bezug auf philosophische, geschichtliche und gesellschaftliche Grundlagen unseres Rechtssystems. Bei der Frage, was die »V« in einem Aktenzeichen des BGH bedeutet, löst man häufig ungläubiges Staunen ob der Frage aus. (Die Entscheidung stammt vom 5. Zivilsenat des BGH, der vornehmlich für das Grundstücksrecht zuständig ist. Die Strafsenate werden im Gegensatz zu den Zivilsenaten mit arabischen Ziffern durchnummeriert.) Großkommentare zu den wichtigsten Rechtsgebieten finden nach der Ausdünnung der Hausarbeiten für die Großen Übungen nur noch in einem reduzierten Umfang Eingang in das Studium. Wie Archivzeitschriften zitiert werden, ist häufig auch nicht mehr vertraut. Viele dieser juristischen Kulturtechniken kann man googeln. Dauert aber meist länger. Wer sie gelernt hat, ist zeitlich im Vorteil, und auch beim Googlen muss man eine Idee haben, nach was man sucht.

Wie steht es nun mit den ethischen, philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen des Rechts? Bietet sich hier nicht ein Kanon an, wie ihn Schwanitz versucht hat? Um ein solches Buch für Juristen müsste man dankbar sein. Da ein solches Buch noch nicht geschrieben ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als mit offenen Augen und neugierig durch das Studium zu gehen. Die online verfügbaren Informationen und die neuen Möglichkeiten, sich umfassend zu informieren, sollten man nutzen.

Ein Beispiel: Die Mephisto-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1971 ist eine der grundlegenden Entscheidungen des Gerichts. Wie die Kunstfreiheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht gegeneinander abzuwägen sind, ist eine der wichtigsten Entscheidungen des Gerichts. Man kann die Entscheidung auf ihren bloßen grundrechtsdogmatischen Gehalt reduzieren. Man kann aber die Entscheidung auch dazu nutzen, sich den historischen Hintergrund zu erschließen. Der Autor des Romans »Mephisto« war Klaus Mann, ein Sohn von Thomas Mann. Vorlage der Romanfigur Hendrik Höfgen war Gustaf Gründgens, der in erster Ehe mit Erika Mann, einer Schwester von Klaus Mann, verheiratet war. Leicht kann man sich nicht nur die familiären Beziehungen zwischen Klaus Mann und Gustaf Gründgens erschließen, sondern auch die Tragik Gründgens, sich dem NS-Regime und insbesondere Göhrings andienen zu müssen, um einer Verfolgung wegen seiner Homosexualität zu entgehen.

Die wichtigste Voraussetzung, die man zum Studieren mitbringen muss, ist Neugierde. Man sollte sich nicht auf das Lernen von Skripten reduzieren lassen. Spätestens im mündlichen Examen gewinnt man, wenn man die Hintergründe der Mephisto- Entscheidung einfließen lassen kann.

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