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Editorial JA 8/2023

Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, Universität Regensburg

Die Wandelbarkeit von Gesetzesinhalten durch Auslegung –

Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Dres. h.c. Bernd Rüthers ist am 22.6.2023 verstorben

 

Nicht nur die Universität Konstanz, deren Rektor von 1991 bis 1996 er war und eine seiner großen Aufgaben darin sah, die Universität in die Gesellschaft hinein zu öffnen, trauert um einen der arriviertesten Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts und einen der renommiertesten Arbeitsrechtler in Deutschland. Kurz vor seinem 93. Geburtstag verstarb am 22.6. 2023 Prof. Dr. Dres. h.c. Bernd Rüthers.

Die Liste seiner Ehrungen ist lang. Er erhielt unter anderem den Hans-Constantin-Paulssen-Preis (1967), den Ludwig-Erhard-Preis (1990) und den Hanns Martin Schleyer-Preis (1995), wurde Ehrenprofessor an der Jiao Tong-Universität Shanghai (1995) und erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität Alexandru Ioan Cuza Iasi/Rumänien (1997) sowie der Katholischen Universität Lublin/Polen (2000). Dem Vorstand der Stiftung Demoskopie Allensbach gehörte er seit 1996 an, war Vorsitzender des Hochschulrats der Pädagogischen Hochschule Weingarten (2000–2006) und wurde zu deren Ehrensenator ernannt (2007). Ehrenmitglied der American Society for Legal History wurde er 2016. Von 1976–1989 war er auch als Richter am Oberlandesgericht Stuttgart tätig. Einer breiten Öffentlichkeit wurde Bernd Rüthers bekannt durch seine Schlichtung im Tarifkonflikt um die 35-Stunden-Woche 1984 in der Metallindustrie sowie durch zahlreiche Artikel in der FAZ.

Nach seiner Dissertation über »Streik und Verfassung« im Jahr 1958 war er mehrere Jahre Direktionsassistent bei Daimler-Benz, bevor ihn Prof. Dr. Hans Brox zurück an die Universität holte. In nur 18 Monaten verfasste er seine ihn über einschlägige Fachkreise weit hinaus bekannt machende Habilitationsschrift »Die unbegrenzte Auslegung – Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus«, der ersten methodischen Analyse der Rechtsanwendung im Dritten Reich, die in neun Auflagen erschienen ist. Den interpretativen Rechtswandel im Nationalsozialismus zu analysieren, folgte aus dem Befund, dass zB das BGB fünf verschiedene Verfassungsepochen überdauert und fünf verschiedene Auslegungen erfahren hat. – Dieses Werk zumindest einmal in die Hand zu nehmen und darin etwas zu lesen, kann ich jedem nur ans Herz legen. Der Grund für diese Empfehlung steht im Vorwort des Buchs: »Der interpretative Inhaltswandel der Privatrechtsordnung in sozialen und politischen Ausnahmelagen lässt Einsichten in die sozialphilosophischen und politischen Grundstrukturen des Rechts zu, die in der Normallage leicht unsichtbar und deshalb unbewusst bleiben.«

Aus seiner umfangreichen Publikationsliste (darunter über 50 Urteilsanmerkungen und mehr als 400 Aufsätze) nehme ich immer wieder gerne zwei Publikationen zur Hand.

Das Essay »Verräter, Zufallshelden oder Gewissen der Nation? Facetten des Widerstandes in Deutschland« (2008) behandelt Geschichte und Akzeptanz des militärischen, privaten, kirchlichen und studentischen Widerstands in den wechselnden Epochen zwischen 1938 und 2008 beispielhaft anhand ausgewählter Persönlichkeiten. Geleistet wird der Widerstand regelmäßig von Minderheiten unter Berufung auf fundamentale Grundwerte und Menschenrechte, während die Mehrheit meist in kritischer Distanz oder offener Ablehnung verharrt. Deutschland bietet dafür zwischen 1938 und 2008 reichhaltiges Anschauungsmaterial. Rüthers hatte als Achtjähriger in Dortmund erlebt, wie in der Reichspogromnacht die im gleichen Haus lebenden jüdischen Vermieter mit ihrer achtjährigen Tochter, seine Spielgefährtin, von der SA aus dem Haus geprügelt wurden und tags darauf sein Vater am Mittagstisch den für ihn unvergessenen Satz sprach: »Ihr wisst jetzt, wir leben in einem Verbrecherstaat.«

Die in erster Auflage 2014 erschienene pointierte Darstellung »Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat«, die sich mit einer der Kernfragen des demokratischen Rechtsstaats befasst, nämlich der Verteilung der Normsetzungsmacht zwischen Gesetzgebung und Justiz, löste einen lebhaften internationalen und interdisziplinären Diskurs zum Rollenwandel der Bundesgerichte und des Bundesverfassungsgerichts aus. Am Ende des Nachworts der überarbeiteten zweiten Auflage steht als Fazit: »Die Umgestaltung der Gesellschaft und der Rechtsordnung oder gar der Verfassung ist im demokratischen Verfassungsstaat allein die Aufgabe der demokratisch legitimierten Organe der Gesetzgebung, nicht der Gerichte, auch nicht des Bundesverfassungsgerichts.«

Dieses Büchlein sollte jede angehende Juristin bzw. jeder angehende Jurist zumindest einmal gelesen haben. Denn Juristinnen und Juristen sollten sich von Zeit zu Zeit über das vergewissern, was sie tun. – Wo es ein Gesetz gibt, muss die Auslegung am rechtspolitischen Willen des Gesetzgebers ansetzen. Der Richter darf nicht seine eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle der Gerechtigkeitsvorstellungen des Gesetzgebers setzen. Auch unter gewandelten Bedingungen hat der Richter den Willen des Gesetzgebers zuverlässig zur Geltung zu bringen. Damit unvereinbar ist die »Freiheit der Methodenwahl« bei der Rechtsanwendung, die zudem allzu oft dazu führt, dass man erst ein Ergebnis im Kopf hat, zu dem dann anschließend die passende Auslegungsmethode gesucht wird. 

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