Prof. Dr. Christian Wolf, Universität Hannover
Loccum 2.0?
»Moin! Sophie, Till, Martin, Malte, Jana.« So stellen sich die insgesamt 15 Teammitglieder von iur.reform auf ihrer Webseite vor. Die Initiative hat eine beeindruckende Studie zur Reform der juristischen Ausbildung vorgelegt. Über 250 Aufsätze zur juristischen Ausbildungsreform aus den Jahren 2000 bis 2020 wurden ausgewertet und in 43 Thesen zusammengefasst. Die Thesen wurden mit Pro- und Contra-Argumenten versehen und im Internet zur Abstimmung gestellt. Die Thesen reichen von der Umstellung des Jura-Studiums auf das Bologna-System über die Digitalisierung der Vorlesungen und Seminare bis hin zu der Forderung nach mehr Europarecht in der Ersten Juristischen Staatsprüfung. Höchst professionell hat die Initiative dabei die Thesen im Internet vorgestellt und jeweils auch die Aufsätze nachgewiesen, welchen man die Thesen entnommen hat. Plakativ sieht man sich in der Tradition von Loccum (Loccum 2.0).
In ein Sofortprogramm haben es sechs Thesen geschafft. Ausgewählt wurden dabei diejenigen Thesen, die sich der breitesten Zustimmung in der Abstimmung über alle drei gebildeten Gruppen erfreuten, nämlich innerhalb derjenigen, die sich noch in Ausbildung befinden, denjenigen, die ausbilden, und schließlich der Praktiker. Um in das Sofortprogramm aufgenommen zu werden, musste aus Sicht von iur.reform zusätzlich eine Umsetzung in wenigen Monaten möglich sein.
Im Sofortprogramm fordert man unter anderem andere Prüfungsleistungen wie Moot Courts zuzulassen, Computer zum Examen-Schreiben zuzulassen sowie eine Verbesserung des Betreuungsschlüssels, also mehr Professorenstellen. Letzteres ist auch dringend erforderlich, wenn wohl eine der Zentralthesen der Initiative umgesetzt wird, die unabhängige Zweitbewertung der Examensklausuren. Sicherlich lässt sich nicht bestreiten, dass mit einer gegenüber dem Zweitgutachter offengelegten Erstbenotung ein gewisser Ankereffekt verbunden ist. Allerdings: Ein Zweitgutachten, welches ein Erstgutachten sein muss, steigert den Korrekturaufwand erheblich. Schon heute wird beklagt, dass Hochschullehrer in zu geringem Umfang an dem staatlichen Teil der Ersten Juristischen Prüfung mitwirken. Mündliche Prüfungen ohne professorale Beteiligung sind genauso wenig eine Seltenheit wie Examensklausuren, die von zwei Praktikern korrigiert werden. Dies ist vielfach eine Folge der Schwerpunktprüfung. Mit der Einführung der Schwerpunkte wurde der Prüfungsaufwand gegenüber der Prüfung im Wahlfach im Ersten Juristischen Staatsexamen, sei es als Klausur und/oder als mündliche Prüfung, ganz erheblich gesteigert, ohne dass eine Kompensation erfolgte.
Nicht alle Thesen haben in der Abstimmung eine Mehrheit bekommen. Eine ganze Reihe von Thesen fand nur eine Mehrheit bei denjenigen, die sich noch in Ausbildung befinden: Reduzierung des Prüfungsstoffs, bundesweites Abschichten, Ausbildung emotional entlasten, Studienleistungen in die Examensnote aufnehmen, weniger umfangreiche Klausuren, divers besetzte Prüfungskommissionen.
Wichtige Forderungen, aber Loccum 2.0? Loccum steht für die Reform der juristischen Ausbildung in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. 1968 und 1969 traf sich in der evangelischen Akademie Loccum eine Reihe von Juristen um den Frankfurter Rechtswissenschaftler Rudolf Wiethölter, um die Krise der Juristenausbildung zu diskutieren. Die in Loccum aufgestellten Forderungen beinhalteten zum einen eine stärkere Praxisintegration der juristischen Ausbildung. Dies mündete in der einphasigen juristischen Ausbildung, also der Integration des Referendariats in das juristische Studium an einer Reihe von Reformfakultäten. Ermöglicht hat dies eine in das DRiG eingeführte Experimentierklausel. Vieles, was damals gefordert wurde, ist zwischenzeitlich an allen Fakultäten auf die eine oder andere Art umgesetzt worden. Moot Courts wie der Soldan Moot Court, Lehrbeauftragte aus der Praxis, gemeinsame Seminare mit Praktikern etc. sind Alltag geworden. Weniger Reformlust oder Reformdruck bestand in den letzten Jahrzehnten gegenüber dem Referendariat. Und auch iur.reform klammert das Assessorexamen selbst dort aus, wo es eigentlich naheliegend wäre, die Forderungen auf das zweite Staatsexamen zu erstrecken, oder warum soll es eine unabhängige Zweitkorrektur nur im Rahmen der ersten juristischen Prüfung, nicht aber im Zweiten geben?
Hauptanliegen von Loccum war jedoch eine kritische Reflexion der tradierten Rechtswissenschaft. In den Worten von Wiethölter: »Sie [Rechtswissenschaft] ist vordemokratisch, weil Recht und Juristen die bisherigen Demokratisierungsprozesse nicht inhaltlich mitgemacht haben, sondern formal bei einem spezifischen Verständnis des konstitutionellen Dualismus von Staat und Gesellschaft stehen geblieben sind.« Allein das in allen Rechtsgebieten tiefe Spuren hinterlassende EU-Recht gäbe Anlass genug, die Kritik Wiethölters aufzugreifen und das Zusammenspiel der nationalen Gerichte mit dem EuGH sowie der europäischen und nationalen Gesetzgebung kritisch zu reflektieren. Und auch der Legal-Tech-Hype bedürfte dringend einer kritischen Reflexion. Welches Gesellschaftsbild liegt dem zugrunde, wenn es uns nur noch auf eine (scheinbar) richtige Lösung ankommt, nicht mehr jedoch darauf, uns gegenseitig ernst zu nehmen, mit Empathie zu begegnen und uns von den Argumenten der Gegenseite beeinflussen zu lassen?
Genau diesen kritischen Geist von Loccum vermisst man bei iur.reform. Vieles wird aus der Perspektive der eigenen Sorgen und Nöte der Studierenden formuliert und abgefragt. So legitim dies ist, man sollte bei aller (berechtigten) Kritik, insbesondere bei der Forderung nach emotionaler Entlastung des Studiums, nicht vergessen, dass die Erste Juristische Prüfung und das Zweite Staatsexamen ihre Grundlage in Art. 33 II GG haben. An die Stelle der Ämterpatronage hat das Grundgesetz die Bestenauslese gesetzt. Völlig egal, wie man die juristischen Prüfungen und das Studium organisiert, stets geht es darum, die besten 15 bis 25 % eines Jahrgangs für die öffentlichen Ämter (Richter, Staatsanwalt, höherer Verwaltungsbeamter) zu ermitteln. Und im Sinne von Loccum sollten die Besten zur kritischen und demokratischen Reflexion des Rechts im Studium befähigt worden sein.