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Editorial JA 6/2023

Prof. Dr. Markus Ogorek, LL.M. (Berkeley), Universität zu Köln
Eine Welt in Aufruhr – Gedanken zum Schutzauftrag der Nachrichtendienste

Eine Welt in Aufruhr – Gedanken zum Schutzauftrag der Nachrichtendienste

Der öffentlich-rechtliche Diskurs in Deutschland ist nicht selten durch ein tief verwurzeltes, und historisch sehr gut begründbares, Misstrauen gegenüber dem Staat geprägt. Geht es im öffentlichen Recht (jedenfalls vordergründig) vor allem um den Schutz vor dem Staat, so gerät das Angewiesensein auf Schutz durch ebendiesen bisweilen aus dem Blickfeld. Damit ist nicht nur der sozialstaatliche Gehalt der Verfassung angesprochen, sondern auch und insbesondere die grundrechtsunmittelbare Pflicht des Staates, dem Einzelnen im engen Wortsinne Sicherheit zu bieten – und zwar auch vor den Interventionen fremder Mächte. Der staatliche Sicherheitsauftrag hat angesichts von tektonischen Verschiebungen globaler Machtachsen – die sich am immer offensiveren Agieren des Systemwettbewerbers China sowie des ungehemmten russischen Agressionsverhaltens beispielhaft ablesen lassen – eine unvorhergesehene Bedeutung erlangt und zu vielfältigen nachrichtendienstlichen Aktivitäten auf dem Gebiet der Spionage-, Cyber- und Sabotageabwehr geführt.

Gemäß § 3 I Nr. 2 BVerfSchG gehört die Abwehr von Spionage, Cyberangriffen und Sabotageakten zu den Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder. Für die Bundeswehr nimmt die entsprechenden Aufgaben der Militärische Abschirmdienst wahr (§ 1 I 1 Nr. 2 MADG). Neben Politik und Militär stehen aus Sicht ausländischer Nachrichtendienste in Deutschland vor allem Wirtschaft und Wissenschaft im Fokus des Interesses. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als sicherlich schlagkräftigster deutscher lnlandsnachrichtendienst informiert daher auf einer Vielzahl von Kanälen über eigene Erkenntnisse und Analysen und unterstützt die (potentiell) betroffenen Akteure beim Aufbau von Präventions- und Abwehrsystemen gegen Ausspähung und Sabotage. Dieser Austausch ist teils bereits eng: So setzte sich die unlängst gemeinsam von BfV und Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft e.V. in Berlin veranstaltete 16. Sicherheitstagung unter dem Titel »Eine Welt in Aufruhr« dezidiert mit den Herausforderungen für Lieferketten, Forschung und Kritische Infrastruktur (KRITIS) auseinander. Die Präventionsspezialisten des Bundesamtes warnten dort unter Hinweis auf ein aktuelles Fallbeispiel eindringlich vor einer immer noch anzutreffenden, schier unglaublichen »Naivität« im Umgang mit signifikanten Risiken und verwiesen auf Schätzungen, denen zufolge sich die durch cyberbasierte sowie menschliche Spionage verursachten Schäden mittlerweile auf über 200 Mrd. EUR summieren.

Trotz der Bemühungen des BfV sowie der Landesämter für Verfassungsschutz sind sich viele Verantwortliche der akuten Bedrohungslage nicht oder nur unzureichend bewusst. Zwar haben einige Großkonzerne mit Blick auf die erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen bereits den richtigen Weg eingeschlagen – im Bereich der kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie der Hochschulen und sonstigen Forschungseinrichtungen ist eine hinreichende Sensibilisierung aber kaum auszumachen. Es ist offenbar für die Leitung von Unternehmen oder Universitäten oft nur schwer vorstellbar (und wird allzu leicht als Hysterie abgetan), dass ausländische Studierende, wissenschaftliche Mitarbeiter oder Professoren von ihren Heimatländern gezielt mit Ausforschungsund Beschaffungsaufträgen betraut werden. Genau dies erfolgt jedoch zB in Umsetzung des wirtschaftspolitischen Masterplans »Made in China 2025«. Sowohl mit klassischen nachrichtendienstlichen Mitteln wie auch durch den Einsatz von sog. nontraditional- actors stehen Wirtschaft, Wissenschaft und Technik seit langem im Zielfeld der chinesischen Auslandsaufklärung.

Auch Russland hat seine Spionageaktivitäten im Wirtschafts-, Finanz- und Technologiesektor drastisch erhöht. Der Präsident des BfV, Thomas Haldenwang, konstatierte Mitte 2021 in einem Interview mit der WELT AM SONNTAG, die Aktivitäten der russischen Nachrichtendienste in Deutschland hätten mittlerweile wieder das Niveau des Kalten Krieges erreicht. Nicht selten kommen dabei Instrumente des sog. Social Engineering wie Phishing-E-Mails oder telefonische Kontaktaufnahmen per Legende zum Einsatz, durch die die Betroffenen zur Preisgabe vertraulicher Informationen bewegt werden sollen. Es würde jedoch zu kurz greifen, die von den Aktivitäten ausländischer Dienste ausgehenden Gefahren auf den Cyber- und Kommunikationsraum zu verengen.

Spätestens nach den ihrer Herkunft nach noch ungeklärten Anschlägen auf zentrale Anlagen der Deutschen Bahn sowie die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass auch die Infrastruktur der Bundesrepublik bedroht ist. Es verdient daher Beifall, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Dezember 2022 zu diesem Themenkomplex ein Eckpunkte-Papier veröffentlicht hat und bis zum Sommer einen Entwurf für ein KRITIS-Dachgesetz vorlegen will, der auf eine Verbesserung der Sicherheit und Resilienz von Bereichen wie Energie, Trinkwasser, Gesundheit und Banken abzielt.

Ebenso wie die für die Abwehr von Spionage zuständigen Stellen wird sich die Gesellschaft insgesamt auf eine neue Dimension von Ausforschungsbemühungen und Sabotageakten ausländischer Nachrichtendienste einstellen und effektive Gegenstrategien entwickeln müssen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Rechtswissenschaft gehalten, die Arbeit der deutschen Dienste konstruktivkritisch zu begleiten. Dabei erweist sich – wie das BVerfG zuletzt in seinem Urteil zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz betont hat – die effektive Kontrolle durch unabhängige Stellen sowie die Implementierung rechtsstaatlicher Verfahren zum Datenschutz als unabdingbar. Auf der anderen Seite wäre es ein kardinaler Fehler, den Nachrichtendiensten von vornherein mit Skepsis zu begegnen und ihr Wirken unter einen diffusen Generalverdacht zu stellen. Dies gilt umso mehr, als das geheime Nachrichtenwesen in Reaktion auf die »NSU-Affäre« einen sehr erfreulichen Wandel vollzogen hat. Der freiheitliche Rechtsstaat ist auf die Arbeit seiner Nachrichtendienste in vielfältiger Hinsicht angewiesen. Er sollte den Diensten daher nicht weniger Vertrauen entgegenbringen als den Polizeien in Bund und Ländern. 

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