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Editorial JA 8/2022

Prof. Dr. Markus Ogorek, LL.M. (Berkeley), Universität zu Köln

Integration durch Partizipation – Über die Zukunft Europas müssen die Bürger entscheiden

Mit Beginn des Jahres 2022 übernahm die Französische Republik den rotierenden Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Die Pariser Regierung hatte sich für ihre Präsidentschaft, die am 30.6. 2022 endete, viel vorgenommen. Als Ziele wurden nicht weniger als ein »souveräneres Europa«, ein »neues europäisches Wachstumsmodell« sowie ein »menschliches Europa« ausgegeben, das seinen Bürgern im Rahmen der bereits im Frühsommer 2021 eröffneten »Konferenz zur Zukunft Europas« Gehör schenken sollte. Ein Jahr später, im Mai 2022, fand die mithilfe einer mehrsprachigen Online-Plattform durchgeführte Konferenz ihren Abschluss – sie hatte Interessierten aus allen Mitgliedstaaten Gelegenheit geboten, über die Herausforderungen für Europa zu diskutieren und Vorschläge zur Weiterentwicklung der Union zu unterbreiten. Über 5 Millionen Menschen besuchten die Plattform, mehr als 700.000 Personen nutzten das öffentliche Forum und trugen durch ihre Wortmeldungen zur Themenfindung für die Plenarversammlung der Konferenz bei.

Der in Straßburg tagenden, fast 450-köpfigen Plenarversammlung gehörten mehr als 100 Bürger der Union sowie Vertreter des Europäischen Parlaments, des Rates, der Kommission sowie aller nationalen Parlamente an. Die dort erarbeiteten Vorschläge adressieren ein breites Themenspektrum: eine stärkere Angleichung im Bereich der Sozialpolitik, größere Kompetenzen für Europa im Gesundheitswesen, die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips im Rat bei den Themen Außen-, Sozial-, Steuer- und Haushaltspolitik sowie bei Sanktionen wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit. Im Mai 2022 wurde der von einem Exekutivausschuss erstellte Ergebnisbericht schließlich an die EU-Gremien übergeben, auf seiner Grundlage wird Kommissionspräsidentin von der Leyen in wenigen Wochen konkrete Maßnahmen vorstellen und in das Arbeitsprogramm der Kommission für 2023 aufnehmen.

Kritische Stimmen haben darauf hingewiesen, das mit der Konferenz verfolgte Ziel, die Union auf eine neue Stufe zu heben, sei insgesamt vage geblieben. Dies kann angesichts der Komplexität und Vielzahl der Herausforderungen, mit denen sich die EU aktuell konfrontiert sieht, allerdings kaum verwundern. Neben dem wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Systemwettbewerb insbesondere mit der Volksrepublik China hat vor allem die Corona-Krise den EU-Mitgliedstaaten – wie auch allen anderen Ländern – die eigenen Leistungsgrenzen klar vor Augen geführt. Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der das Ende der französischen Ratspräsidentschaft überschattete, rief den Europäern zudem in Erinnerung, in welchem Umfang sie weiterhin von Sicherheitsgewährleistungen der Vereinigten Staaten abhängig sind. Die Veränderung der wirtschaftlichen wie politischen Weltordnung vollzieht sich vor dem Hintergrund einer beinahe apokalyptischen Bedrohung durch den fortschreitenden Klimawandel, dem auf europäischer Ebene unter anderem mit dem Programm »Fit for 55« begegnet werden soll. Das Maßnahmenpaket, das die Europäische Kommission am 14.6.2021 vorgelegt hat, soll die Nettotreibhausemissionen der Mitgliedstaaten um mindestens 55 % gegenüber 1990 reduzieren und Europa bis 2050 klimaneutral machen.

Unabhängig davon, ob sich die Ziele der Konferenz zeitnah verwirklichen lassen, bedeutet die in dieser Form beispiellose Partizipation der Bürger Europas für die Union einen Quantensprung in Sachen Demokratie. Der zivilgesellschaftliche Dialog hat zutage gefördert, wie unzureichend die EU für zentrale Zukunftsthemen aufgestellt ist – und wie dringend sie einer tiefgreifenden Reform bedarf. So dürften im Lichte des Ukraine-Kriegs keine ernsthaften Zweifel mehr an der Notwendigkeit einer einheitlichen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik bestehen. Mit Blick hierauf kommt insbesondere der deutschfranzösischen Rüstungszusammenarbeit eine tragende Rolle zu. Die Programme zur Entwicklung eines gemeinsamen Kampfflugzeugs (»Future Combat Air System«) und eines Kampfpanzers (»Main Ground Combat System«) leiden immer noch unter der Dominanz nationaler Eigeninteressen, die Themen wie Arbeitsplätze, Patente und die Kontrolle der Exporte betreffen. Doch auch deutsche Vorbehalte, eine Aufrüstung der Bundeswehr könne aus Sicht der europäischen Partner als besorgniserregend empfunden werden, hemmen die Union – ein Thema übrigens, auf das die französische Botschafterin Descôtes im Rahmen einer Debatte an der Universität zu Köln mit dem Hinweis reagierte, Deutschland habe sich verändert und genieße das volle Vertrauen seiner Verbündeten.

Bemühungen, die EU zu einem Bundesstaat auszubauen, sind bislang zwar immer wieder gescheitert und erscheinen trotz der existentiellen Krisen unserer Zeit, die als Katalysatoren für die Integration wirken könnten, wenig erfolgversprechend. Dennoch bieten sich perspektivisch Chancen zur vertieften Zusammenarbeit. Deutschland und Frankreich trifft hierfür aufgrund ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und Geschichte eine besondere Verantwortung. In der Corona-Krise rückte die Bundesrepublik erstmals von ihrer strikten Ablehnung einer gemeinsamen Schuldenaufnahme aller EU-Staaten ab, um die Finanzierung des 750 Milliarden schweren Wiederaufbau-Fonds »Next Generation EU« zu ermöglichen. Der russische Überfall auf die Ukraine hat den Druck zur Vergemeinschaftung von Schulden auf EU-Ebene noch einmal spürbar erhöht. Auf diesem Weg ließe sich möglicherweise auch die Transformation des Energiesektors vorantreiben, um schneller von russischen Gas-, Öl- und Kohlelieferungen unabhängig zu werden. Vereinzelt vorgeschlagen wurde sogar eine Finanzierung der europäischen Streitkräfte mithilfe von EU-Anleihen. Unabhängig davon, ob die Zukunft der EU in einer Fiskalunion oder gar einem Bundesstaat liegt oder nicht: Die Konferenz über die Zukunft Europas hat eindrücklich belegt, dass die Debatte hierüber unter breiter Beteiligung der europäischen Bürgerschaft geführt werden kann – und im Interesse einer demokratischen Union auch geführt werden muss.
Prof. Dr. Markus Ogorek, LL.M. (Berkeley), Universität zu Köln

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