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Editorial JA 2/2022

Prof. Dr. Kyrill-A. Schwarz, Universität Würzburg

Der Bundesstaat als Herrschaftsform der Vielfalt


Ein erster Blick in das Grundgesetz offenbart die zentrale Bedeutung und Wirkungsmächtigkeit des Bundesstaates unter der Herrschaft des Grundgesetzes. So heißt es in Art. 20 I GG in bemerkenswerter Redundanz, dass die »Bundesrepublik Deutschland« ein »Bundesstaat« ist, und in Art. 79 III GG wird der Bundesstaat gleich mehrfach vor dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers geschützt, nämlich mit Blick auf die »Gliederung des Bundes in Länder«, »die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung« und dann über die Grundsätze des Art. 20 GG. Das Grundgesetz ist eine pointiert bundesstaatliche Verfassung. Die Länder sind – wenngleich mit gegenständlich begrenzter – Staaten mit eigener Staatsqualität; sie genießen – in den Grenzen der Homogenitätsanforderungen des Art. 28 I GG – Verfassungsautonomie und sind dementsprechend weitgehend frei in der Ausgestaltung ihrer Verfassungen, wenngleich die unitarisierende Wirkung der Grundrechte des Grundgesetzes in ihrer Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht nicht unterschätzt werden darf.

Ein zweiter Blick in das Grundgesetz, nämlich der auf die Verfassungsänderungen der letzten 70 Jahre, macht aber auch deutlich, dass keine andere Grundentscheidung der Verfassung solche Änderungen erfahren hat, was auf eine stete Reformbedürftigkeit schließen lässt. Mehr als ein Drittel aller Verfassungsänderungen betrafen das Bund-Länder-Verhältnis und haben die Kompetenzen immer weiter zugunsten des Bundes verschoben.

Woraus resultiert dieses Bedürfnis? Ist es das in der Corona-Pandemie wieder deutlich gewordene Unbehagen an föderaler Vielfalt, wenn einheitliche Regeln eingefordert werden, die dann aber genau zu der Zentralisierung und zu einer Machtverschiebung hin zum Bund führen, die anderen Ortes immer wieder beklagt werden? Sind es intransparente Entscheidungsstrukturen bis hin zu einer verfassungsrechtlich nicht  vorgesehenen und nur schwer zu legitimierenden Ministerpräsidentenkonferenz unter Einschluss der Bundesregierung? Ist es das Problem der Verantwortungszurechnung, wenn Entscheidungsergebnisse nicht mehr der einen oder der anderen Ebene zugerechnet werden können? Und etwas Weiteres gilt es zu berücksichtigen: Kaum eine Forderung ist so wirkungsmächtig wie die Forderung nach der »Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse«; nirgends wird der Einzug egalitärer Aspekte in die dem Grunde nach im Föderalismus angelegte Vielfalt so offenkundig. Und so ist auch die Geschichte der Föderalismusreformen seit 2006 eher eine Geschichte des Abbaus des Bundesstaates hin zu einem Zentralstaat, bei der zwar Gesetzgebungskompetenzen neugeordnet und Schuldenbegrenzungsmechanismen implementiert werden, bei der  aber vor allem in einer Gesamtbetrachtung der Bund immer mehr Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnet wurden, die mit einer substantiellen Änderung in der Finanzverfassung erkauft wurde, nämlich der Ersetzung des (streitanfälligen) Länderfinanzausgleichs durch einen Bundesfinanzausgleich. Ein wichtiger Aspekt, der aber gerne übersehen wird, ist aber neben der Entmachtung der Länder durch Kompetenzverschiebungen auf den Bund vor allem der schwindende Einfluss der Länderparlamente, da der Einfluss der Länder Im Bereich der
Gesetzgebung sich in den – begrenzten – Mitwirkungsmöglichkeiten der Landesregierungen über den Bundesrat erschöpft; ein vergleichbarer Mechanismus gilt auch bei der Mitwirkung der Länder im Rahmen der Europäischen Integration – die Mitwirkung vollzieht sich nach Maßgabe von Art. 23 II, IV – VI GG über den Bundesrat. Dies ist ein Befund, der auch in der Corona-Pandemie und sein Exekutivmanagement bestätigt wird, bei dem es ebenfalls mehr die Landesregierungen und weniger die Parlamente sind, die die wesentlichen Entscheidungen treffen. Von dem ursprünglich intendierten Dualismus von Bund und Ländern ist wenig geblieben; vorherrschend ist ein Verbundföderalismus mit diffusen Kompetenzzuweisungen und unklaren Verantwortlichkeiten.

Dass Bundesstaatlichkeit damit unter Rechtfertigungszwang steht, liegt nicht nur an den einem Bundesstaat inhärenten Reibungen; es ist vor allem die Tatsache, dass der Bundesstaat nicht alternativlos ist. Der Bundesstaat ist die Konsequenz territorial begrenzter, kultureller oder sozioökonomischer Gegebenheiten, aber er ist materiell zunächst substanzlos, ihm kommt kein ethisch-moralischer Gehalt als solcher zu. Anders als für die Demokratie oder den sozialen Rechtsstaat steht mit dem Zentralstaat ein durchaus gangbarer und in Europa auch existierender Gegenentwurf zur Verfügung. Schon aus diesem Grund darf der Bundesstaat den Vergleich nicht scheuen und muss sich an seinen Alternativen messen lassen, wenn er auf Dauer überzeugen und Akzeptanz für seine Existenzberechtigung schaffen will. Und es gibt durchaus gute Gründe, den Föderalismus des Grundgesetzes nicht als einen in die Jahre gekommenen Störfaktor zu begreifen: nicht nur hat die Bundesstaatlichkeit ernsthafte separatistische Tendenzen einzelner Regionen gar nicht erst entstehen lassen; sie hat vor allem in einer Zeit von Europäisierung und Globalisierung die Aufgabe, den Gedanken der Subsidiarität zu stärken und das Bedürfnis nach Nähe zu befriedigen. Im Übrigen erweist sich der Bundesstaat als Gegenentwurf zum Zentralstaat – unbeschadet aller unübersehbaren Unitarisierungstendenzen – als ein Mittel der Gewaltenteilung und Gewaltenbeschränkung und damit zugleich auch Mittel der Freiheitssicherung, selbst wenn dies von den Begünstigten so nicht wahrgenommen wird. Ein Bewusstsein für die Vorzüge des Föderalismus in einer zunehmend gleichförmigen Welt zu schaffen, ist sicherlich ein schwieriges, aber zugleich ein lohnenswertes Unterfangen, da er die Herrschaftsform ist, die Vielfalt in Einheit garantiert.

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