Editorial JA 1/2022
Prof. Dr. Hans Kudlich, Erlangen-Nürnberg
Es gibt viel zu tun …
In der Zeit zwischen Bundestagswahl und Bildung der neuen Regierung ist – gerade mit Blick auf die Corona-Pandemie – vielfach diskutiert worden, dass ein gewisses »Handlungsvakuum« bestand: Die »alte«, noch geschäftsführende Regierung konnte mangels parlamentarischer Mehrheit nicht mehr legislativ tätig werden; die zukünftige Regierung konnte trotz parlamentarischer Mehrheit zumindest nicht exekutiv tätig werden. Diese Situation wird (voraussichtlich und hoffentlich) bis zum Erscheinen dieses Editorials überwunden sein.
Jenseits der Corona-Politik, die erwartbar zahlreiche und teilweise auch kurzfristige Änderungen und Nachschärfung erfahren wird, spielt im Koalitionsvertrag der »Ampel« unter anderem auch das Strafrecht eine wichtige Rolle. An den verschiedensten Stellen werden Änderungen in Aussicht gestellt, wobei das Paket nahezu das vollständige Programm derjenigen Fragen umfasst, die in den letzten Jahren rechtspolitisch diskutiert worden sind. Vor dem Hintergrund der Aussage »Das Strafrecht ist immer nur ultima ratio. Unsere Kriminalpolitik orientiert sich an
Evidenz und der Evaluation bisheriger Gesetzgebung im Austausch mit Wissenschaft und Praxis« (Koalitionsvertrag [KV], S. 106) werden teilweise gleichwohl Ausweitungen der Strafbarkeit bzw. Strafschärfungen in Aussicht gestellt, so etwa für den Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung und -bestechlichkeit (KV, S. 10), im Tierschutz(straf)recht (KV, S. 44) oder durch neue strafschärfende Strafzumessungskriterien in § 46 II StGB in Bezug auf geschlechtsspezifische und homosexuellenfeindliche Beweggründe (KV, S. 119). Eine Entkriminalisierung ist für die Werbung für den Schwangerschaftsabbruch (§ 219a StGB) vorgesehen (KV, S. 116).
Von Relevanz vor allem für das Wirtschafts- und Unternehmensstrafrecht sind die Ziele, die Vorschriften der Unternehmenssanktionen
(einschließlich eines Rahmens für Compliance-Pflichten und für die Durchführung interner Untersuchungen) zu überarbeiten
und die EU-Whistleblower-Richtlinie rechtssicher und praktikabel umzusetzen (KV, S. 111).
Einer Modernisierung (und möglicherweise damit auch: Rationalisierung) der Strafjustiz könnte auch das Vorhaben dienen, das Sanktionensystem in seiner Gänze mit dem Ziel von Prävention und Resozialisierung zu überarbeiten (KV, S. 106). Das Gleiche gilt für die schon lange immer wieder aufgestellte Forderung, eine reguläre Mitgliedschaft von in Justizvollzugsanstalten arbeitenden Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten in der gesetzlichen Rentenversicherung zu ermöglichen (KV, S. 74).
Und auch das Strafverfahren ist nicht vergessen worden, nein, man strebt sogar eierlegende Wollmilchsau-Reformen an: »Wir machen Strafprozesse noch effektiver, schneller, moderner und praxistauglicher, ohne die Rechte der Beschuldigten und deren Verteidigung zu beschneiden.« Exemplarisch: »Vernehmungen und Hauptverhandlung müssen in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Unter anderem regeln wir die Verständigung im Strafverfahren einschließlich möglicher Gespräche über die Verfahrensgestaltung und das grundsätzliche Verbot der Tatprovokation. Gerichtsentscheidungen sollen grundsätzlich in anonymisierter Form in einer Datenbank öffentlich und maschinenlesbar
verfügbar sein. Wir stellen die Verteidigung der Beschuldigten mit Beginn der ersten Vernehmung sicher.« (KV, S. 106)
Es handelt sich ersichtlich um ein umfangreiches Paket. Ob in einer Legislaturperiode, die vorhersehbar jedenfalls in der Anfangszeit
mit Maßnahmen rund um die Corona-Pandemie beschäftigt sein wird und in der während der gesamten Laufzeit auch innerhalb der Regierungskoalition möglicherweise der eine oder andere »Kampf ausgefochten« werden muss, ein solches Pensum realisierbar ist, bleibt abzuwarten. Ein umfangsmäßig ambitioniertes Programm ist es allemal. Die seit vielen Jahren erstmalige parlamentarische Mehrheit ohne die Union lässt dabei auch die Änderung von Normen zu, die ihre gegenwärtige Gestalt erst vor kurzem erhalten haben (so § 219a StGB). Teilweise
werden Themen angegangen, die aktuellen Empörungen geschuldet sind (etwa beim Tierschutzstrafrecht, bei der Nachschärfung der Abgeordnetenbestechung oder auch bei einer Ausweitung der Strafschärfungskriterien in § 46 II StGB), ohne dass ein gewisses Spannungsverhältnis mit dem Postulat vom Strafrecht als »ultima ratio« völlig kaschiert werden könnte.
Teilweise – so etwa bei der (europarechtlich dringend geforderten) Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie und auch bei einer
Regelung des Verbandssanktionenrechts – muss die neue Regierung »Hausaufgaben nachmachen«, die in der letzten Legislaturperiode
liegengeblieben sind (zu denen es aber durchaus schon umfangreiche Vorarbeiten gibt – auch wenn die »Überarbeitung der Vorschriften über Unternehmenssanktionen« erst einmal deutlich weniger ambitioniert klingt als der Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes, der in der 19. Legislaturperiode vorgelegen hatte).
Keine Erwähnung findet im Koalitionsvertrag, soweit ersichtlich, eine Neuregelung des Rechts der Suizidunterstützung, welche nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB denkbar und auch wünschenswert wäre – wünschenswert nicht mit Blick auf den weiteren Versuch einer Pönalisierung (hierzu hat das Bundesverfassungsgericht viel Klärendes und Grundsätzliches gesagt), sondern mit Blick auf den erforderlichen Rahmen einer Suizidunterstützung, etwa durch ein entsprechendes aufsichtsrechtliches Regime und durch Modifikationen
im Betäubungsmittelrecht.
Wenn auch nur der größere Teil der hier genannten Pläne verwirklicht wird, steht uns aus strafrechtlicher Sicht eine ereignisreiche Legislaturperiode bevor (was im Strafrecht immer nur eine bedingt gute Nachricht ist, da gerade diese Rechtsmaterie auf normative Stabilität angewiesen ist). Über die für die Ausbildung wichtigen Änderungen werden Sie in der JA selbstverständlich informiert werden.