Editorial JA 11/2021
Prof. Dr. Markus Ogorek, LL.M. (Berkeley), Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre der Universität zu Köln
Kritik aus Verbundenheit – Gedanken zur Rechtsstaatlichkeit in Polen
Als Polen gemeinsam mit neun weiteren mittel- und osteuropäischen Staaten im Mai 2004 der Europäischen Union beitrat, waren die Erwartungen riesig. Auch für Deutschland war die Aufnahme Polens ein Grund zum Feiern. Beide Staaten blicken auf eine wechselvolle und nicht zuletzt durch die deutschen Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg tief belastete Geschichte zurück, die in Polen auch vielen jüngeren Menschen sehr präsent ist. Die gemeinsame Unionsmitgliedschaft sollte Begegnungen auf Augenhöhe ermöglichen und dabei helfen, vergangenes Unrecht wiedergutzumachen.
Diese anfängliche Begeisterung ist deutlicher Ernüchterung gewichen. Trotz der zunehmend engen wirtschaftlichen Verflechtungen schlug das Land seit dem Erstarken der nationalkonservativen Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) einen insgesamt europakritischen, wenn nicht gar europafeindlichen Kurs ein. Zu einer gewissen Entfremdung im beiderseitigen Verhältnis haben insbesondere die in Polen unternommenen Justizreformen beigetragen, deren Herzstück die 2018 bei dem Obersten Gericht (Sąd Najwyższy) eingerichtete Disziplinarkammer für Richter ist. Die Kammer nimmt die Aufsicht über alle Richter wahr und hat die Befugnis, diese wegen des Inhalts ihrer Entscheidungen disziplinarrechtlich zu verfolgen, ihre Immunität aufzuheben sowie ihre Besoldung zu kürzen.
Die EU-Kommission leitete im Oktober 2019 wegen dieser Disziplinarkammer ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen ein. Im November 2019 erklärte der EuGH es im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens für unionsrechtswidrig, wenn Rechtstreitigkeiten über die Anwendung des EU-Rechts in die Zuständigkeit einer Einrichtung fallen, die kein unabhängiges und unparteiisches Gericht ist (Urt. v. 19.11.2019 – C-585/18 ua, EuZW 2020, 155). Daraufhin urteilte das polnische Oberste Gericht im Dezember 2019 und im Januar 2020, die Disziplinarkammer könne nicht als unabhängiges Gericht qualifiziert werden. Gleichwohl setzte die Disziplinarkammer ihre Arbeit fort. Die EU-kommission beantragte deshalb im Januar 2020 eine einstweilige Anordnung gegen Polen, die im April 2020 erging (Beschl. v. 8.4. 2020 – C-91/19 R, BeckRS 2020, 5366). Entgegen dieser Anordnung wurde die Tätigkeit der Disziplinarkammer jedoch weiterhin nicht beendet, sodass die EU-Kommission Ende März 2021 ein neues Vertragsverletzungsverfahren einleitete (BeckEuRS 2021, 720352). In dem seit 2019 anhängigen Vertragsverletzungsverfahren hat der EuGH nun eine Entscheidung getroffen (Urt. v. 15.7. 2021 – C-791/19, BeckRS 2021, 18354).
Die Luxemburger Richter stellen in den Urteilsgründen fest, dass eine Einrichtung wie die polnische Disziplinarkammer nicht die notwendigen Garantien für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bieten könne. Ausschlaggebend sei unter anderem, dass die Mitglieder der Disziplinarkammer vom Landesjustizrat (Krajowa Rada Sądownictwa) vorgeschlagen würden, der selbst unter erheblichem Einfluss von Legislative und Exekutive stehe (Rn. 102 ff.). Dessen ungeachtet gehe es nicht an, den Inhalt von Gerichtsentscheidungen als Disziplinarvergehen zu bewerten (Rn. 138). Ein anderslautendes Disziplinarrecht berge die Gefahr, als Instrument der politischen Kontrolle oder zur Ausübung von Druck auf Richter missbraucht zu werden (Rn. 138). Schließlich sei es aus Sicht des Unionsrechts nicht akzeptabel, dass gegen nationale Richter ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden könne, weil sie ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richteten (Rn. 227). Wiederholt verweisen die EuGH-Richter darauf, dass die angegriffenen Regelungen im »Kontext« der größeren Reformen der Justizorganisation zu bewerten seien (vgl. Rn. 288, 107, 112, 150).
Wie es nach der Entscheidung des EuGH im Streit zwischen Polen und der EU weitergehen soll, ist bislang offen. Die ersten Reaktionen in Warschau fielen erwartungsgemäß harsch aus. So sprach der polnische Justizminister Ziobro von einem »Urteil, das auf politische Bestellung der EU-Kommission gefällt wurde«. Mittlerweile hat Vize-Regierungschef Kaczynski angekündigt, die Disziplinarkammer abschaffen zu wollen –allerdings nur »in ihrer jetzigen Form«. »Ich erkenne solche Urteile nicht an«, hielt er fest. Der EuGH überschreite seine Kompetenzen, indem er sich in nationale Hoheitsrechte einmische.
Wenn die polnische Regierung geltend macht, Fragen der nationalen Justiz seien dem Zugriff des EuGH von vornherein entzogen, so mag dies manche Beobachter an die PSPP-Entscheidung des BVerfG erinnern. Die Karlsruher Richter hatten die Entscheidung des EuGH zum Staatsanleihekaufprogramm der EZB aus 2015 (EuZW 2019, 162) als »schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar« und damit als unbeachtlichen »Ultra-vires-Akt« angesehen (BVerfG NJW 2020, 1647, Rn. 117 ff.). Dem BVerfG war anschließend vorgeworfen worden, rechtsstaatlich bedenklich agierenden EU-Staaten ein Rechtfertigungsinstrument an die Hand zu geben, um sich selbst von den Bindungen des EU-Rechts freizusprechen. Tatsächlich griff Polens Vize-Justizminister Kaleta das PSPP-Judikat prompt auf und ließ verlautbaren, es habe bestätigt, dass Polen in seinem Konflikt mit der EU Recht habe. Es waren wohl vor allem die teils ungeschickt brachialen Formulierungen des BVerfG, die solchen Missdeutungen Vorschub leisteten.
Dennoch wäre es naiv zu glauben, die polnische Regierung sei im Zusammenhang mit ihrer höchst bedenklichen Justizreform auf Schützenhilfe aus Karlsruhe angewiesen. Wer vom BVerfG verlangt, sich Zurückhaltung aufzuerlegen, damit Entscheidungen in Mittel- und Osteuropa nicht zur Rechtfertigung zweifelhafter politischer Vorhaben umgedeutet werden können, lenkt von der eigentlichen Verantwortung ab. Zudem unterminierte ein solches Zurückhaltungsgebot die Autorität des deutschen Verfassungsgerichts im europäischen Gerichtsverbund. Im Kern ging es in der PSPP-Entscheidung um die Frage, was die EU heute eigentlich ist und in welche Richtung der Integrationsprozess fortgeführt werden soll. Diese Frage war und bleibt zulässig, sie muss gestellt werden können.
Nehmen die EU und ihre Mitgliedstaaten es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen ernst, so sind sie gehalten, politischen und wirtschaftlichen Druck auf Polen auszuüben. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die EU-Kommission am 7.9. 2021 beim EuGH die Verhängung finanzieller Sanktionen gegen Polen beantragt hat. Im Übrigen gilt: Wenn ein Mitgliedstaat die Herrschaft des Rechts strukturell nicht mehr zu gewährleisten willens oder in der Lage ist, darf er auf Dauer nicht Mitglied der EU bleiben.