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Editorial JA 10/2021

Dr. iur. Habil. Mustafa Temmuz Oğlakcıoğlu, Universität Erlangen-Nürnberg

Weg von Konkurrenzdenken und Versagensängsten


In einer neueren Folge unseres JA-Podcasts »Räuberischer Espresso«, den Florian Nicolai und meine Wenigkeit aufnehmen, haben wir uns über kriminelle Handlungen von Jurastudierenden ausgetauscht, und das, als wäre es das Normalste der Welt. Ist das Verstecken von Büchern bereits ein Diebstahl? Wie sieht es mit dem Schwärzen von Buchseiten aus? Und fällt das »Faken« von »Großen Scheinen« unter den Straftatbestand der Urkundenfälschung? Natürlich – und dies deutete sich in unserem Gespräch bereits an – steckt hinter der nonchalanten Unterhaltung über kriminelle Handlungen von Jurastudierenden viel mehr drin als »Klausurrelevantes«: Es tut ein wenig weh, dass es überhaupt nicht unrealistisch erscheint, dass Jurastudierende nicht nur unkollegiales Verhalten an den Tag legen, sondern sogar potenziell strafbare Handlungen begehen, und dies womöglich, weil mitunter schon ziemlich früh die Saat für Versagensängste und Konkurrenzdenken ausgebracht wird, die, wenn nicht kriminogene, so doch zumindest desozialisierende Wirkung entfalten könnten:

»Schauen Sie sich um. Nach links und nach rechts. Sie brauchen sich die Gesichter nicht zu merken. Es lohnt sich nicht. Nur ein Drittel von Ihnen wird bis zum Examen durchhalten«. Es genügt, dass man dieses Zitat kennt, unerheblich ist, ob es sich um eine Audimax-Legende oder um eine von Dozentinnen und Dozenten oft genug rezitierte Phrase handelt, die man früher oder später in der Vorlesung zu hören bekommt.
Jurastudierende beginnen früh damit, sich mit dem Studium als solchem zu brüsten, gar zu identifizieren. Es scheint sich hierbei um eine Form des Impression Managements zu handeln: Überforderung, Stress und Versagensängste werden dadurch, dass man sich kontinuierlich den Konkurrenzdruck und die besonderen Herausforderungen des Jurastudiums (Stofffülle, Formulierungstechnik, notwendige Fähigkeit zur Abstraktion) vor Augen führt, übertüncht, zum Teil auch bewältigt. Stereotype stellen ein Zugehörigkeitsgefühl her und affirmieren dieses; ein Blick auf die sozialen Medien und die durchaus erfolgreichen Jura-Meme-Seiten, auf denen die teleologische Reduktion »hart gefeiert« wird, bestätigt diesen Befund. Schnell geht der gemeine Jurastudierende dazu über, sich über die »Anderen« (die jurafremden Wesen) zu erheben, indem er ihnen das atypische Notensystem erklärt, den Unterschied zwischen Mord und Totschlag erläutert oder sich jedes Mal selbst dabei ertappt, wie toll er es doch findet, dass er beim Bäcker nun stets an das Abstraktionsprinzip denken muss (und sich lustig über Personen macht, die Eigentum erwerben, weil sie ein Buch gekauft haben). Benannte Klischees und die Sage vom »verpeilten Kommilitonen Y, der es leider nicht geschafft hat«, bleiben womöglich auch auf der Welt, weil die Dozentinnen und Dozenten – die all das hinter sich haben – nur allzu gerne dieses Spiel mitspielen (was zumindest den Vorwurf aus der Welt schafft, es gehe ihnen darum, Panik zu verbreiten). Auch die späteren Absolventinnen und Absolventen beteiligen sich an diesen Riten, bilden allerdings als »Überlebende« eine eigene Subkultur, die sich vor allem durch eine Überhöhung des eigenen Erfolgs und eine ordentliche Portion »Prüfungsordnungs-Self-Handicapping« auszeichnet (»Hier in Bayern sind die Klausuren viel schwieriger«, »Das Erste Examen ist ein Witz im Vergleich zu den 11 Klausuren im Zweiten Staatsexamen«).

Jenes »Rollenspiel«, das bis zu einem gewissen Grad nicht nur als erklärbarer, sondern mit positiven Effekten (Stressbewältigung, Zusammengehörigkeitsgefühl) verbundener Prozess betrachtet werden sollte, hat allerdings auch seine Kehrseiten. Das Jurastudium gilt von Anfang an als »ruppig«: Kommilitoninnen und Kommilitonen werden selten als potenzielle Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen, sondern als Konkurrentinnen und Konkurrenten betrachtet, die einem irgendwann den begehrten Platz in der Großkanzlei wegschnappen oder den Erwartungshorizont im Rahmen der Korrektur von Abschlussklausuren hoch- oder herunterschrauben könnten. Die ständige Erinnerung an einen Arbeitsmarkt, der sich in seiner ganzen Pracht nur dem oberen Drittel der Absolventen präsentiert, die nur rudimentäre Vermittlung sozialer sowie kommunikativer Kompetenzen während des Jurastudiums und schließlich auch die immer noch verbreitete Vorstellung, dass bereits die Noten in den allerersten Abschlussklausuren als Benchmark für den weiteren Verlauf des Studiums fungieren, mögen jenes Konkurrenzdenken verstärken. Daher sollte jeder – obwohl das Spiel zugegebenermaßen auch Spaß machen kann (der Verfasser selbst unterliegt diesen Mechanismen) – versuchen, ab und an aus diesen Rollen auszubrechen und sich an Werte zu erinnern, die eine Person, die später das Recht und den Rechtsstaat repräsentiert, ausmachen sollten: Rationalität, Hilfsbereitschaft, Kollegialität, Empathie und Demut, um nur einige exemplarisch zu nennen. Im ersten Schritt sollten auch die Dozentinnen und Dozenten da draußen dazu übergehen, jene Narrative durch neue zu ersetzen und damit auch das Klischee vom Jurastudierenden neu zu erfinden. Beginnen könnte man beispielsweise mit einer Abwandlung des obigen Zitats: »Schauen Sie sich um. Einmal nach links und einmal nach rechts. Merken Sie sich die Gesichter und Namen. Es lohnt sich.  Lernen Sie neue Menschen kennen, es wird Ihren Horizont erweitern, unabhängig davon, ob Sie oder er erfolgreich im Jurastudium sind. Seien Sie diszipliniert, stecken Sie andere mit ihrer Begeisterungsfähigkeit für das Fach an und seien Sie immer hilfsbereit.«

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