Editorial JA 6/2021
Prof. Dr. Christian Wolf, Hannover
Dank Oma – oder warum Python das Gegenteil von Aufklärung ist
Die Coronavirus-Impfverordnung (CoronaImpfV) regelt die Priorisierung der Impfung nach Priorisierungsgruppen. Erhöhte, hohe, höchste Priorität – so die Steigerungsform von Priorität in der CoronaImpfV. In welche Priorisierungsgruppe man fällt, entscheidet zunächst einmal das Alter: Ü 80-Gruppe 1, Ü 70-Gruppe 2 und Ü 60-Gruppe 3. Neben dem Alter gibt es eine Reihe von Gründen, warum Personen einer der drei Priorisierungsgruppen zugewiesen werden, unter anderem berufliches Expositionsrisiko in Bezug auf das Coronavirus, Vorerkrankungen etc. Für die Gruppe 2 sieht die CoronaImpfV acht zusätzliche Gründe mit Untergründen zum Teil bis lit. j vor, um abweichend vom Lebensalter bereits in der Gruppe 2 geimpft zu werden. Darunter fällt auch die Betreuung und Pflege von Personen in der Priorisierungsgruppe 1, zB die Oma durch den Enkel. Was die CoronaImpfV nicht regelt, ist die Frage, wie innerhalb der jeweiligen Gruppen zu reihen ist. Da insbesondere die Gruppe 2 sehr groß ist und die Ergänzungen der Priorisierung nach Alter zahlreich sind: keine négligeable Frage.
Genau an der Stelle kommt nun KI ins Spiel, und es wird spannend. Man weist den Personen, die nicht aufgrund ihres Lebensalters in Gruppe 2 sind, durch einen Algorithmus ein fiktives Lebensalter zu. So kann aus einem 34-jährigen Rundfunkmoderator, der sich um seine Ü 80-Oma kümmert, ein fiktiv 79-Jähriger werden. Leider kommt es offensichtlich auch vor, dass ein 60-Jähriger, der sich um seine Ü 80-Mutter kümmert, nur ein fiktiv 71-Jähriger wird und damit deutlich nach dem 34-jährigen Moderator geimpft wird.
Um die Frage zu beantworten, wie diejenigen Personen zu reihen sind, die nicht aufgrund ihres Alters in Gruppe 2 fallen, gibt es eine ganze Reihe von denkbaren Lösungen: Losen, die Differenz zwischen dem eigenen Lebensalter des zu Impfenden und dem Mindestimpfalter der Gruppe Ü 70, nochmals eine Gewichtung der Kriterien in der Priorisierungsgruppe etc. Für eine öffentlich-rechtliche Klausur fallen einem spontan eine ganze Reihe von Fragestellungen ein. (zB: Handelt es sich bei der Entscheidung um einen VA, ist die ImpfVO wirksam, wenn keine Reihenfolge innerhalb der Prioritätsgruppe festgelegt ist oder liegt ein Verstoß gegen den Wesentlichkeitsgrundsatz vor?) Wirklich spannend wird es jedoch, wenn man nach der Begründung fragt, warum der jung-dynamische 34-jährige Rundfunkmoderator zu einem fiktiven 79-jährigen Greis und der 60-jährige Best-Ager lediglich zu einem 71-jährigen Best-Ager vorrückt. In Bayern bestimmt die Software BayIMCO das fiktive Alter mit einem statistischen Korrekturfaktor. Der Algorithmus soll eine größtmögliche Gleichbehandlung gewährleisten. Der Algorithmus wurde bewusst nicht offengelegt, so das Bayerische Gesundheitsministerium, um möglichem Missbrauch und Manipulation vorzubeugen.
Wie bitte? Handelt es sich dabei nicht um einen eine Begünstigung teilweise ablehnenden Verwaltungsakt? Muss so etwas nicht begründet werden? Besteht nicht ein Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung? Muss die Ermessensausübung nicht in nachvollziehbarer Weise dargelegt werden? Kann man die Ermessenausübung an einen Algorithmus delegieren?
Dass wir uns in einer Ausnahmesituation befinden und daher bereit sind, alle staatlichen Maßnahmen widerspruchslos hinzunehmen, kann kaum als Begründung dienen. Weder inhaltlich noch tatsächlich. Zu groß sind die mediale Aufregung und die verwaltungsgerichtlichen Verfahren gegen Ausgangsbeschränkungen auf Länderebene, dem Verkaufsverbot von Feuerwerkskörpern an Silvester und die Bundesnotbremse mit dem Weg nach Karlsruhe.
Der eigentliche Grund dürfte beunruhigend tiefer liegen. Nicht erst seit »Legal Tech« als der neue Leitstern am Firmament erscheint, hat sich die Rechtswissenschaft zunehmend an einem mathematisch verstandenen Justizsyllogismus orientiert. Man will zu eindeutigen Ergebnissen kommen, mit den Naturwissenschaften und deren Wissenschaftsbegriff mithalten können. Man will deren Methode auf die Geisteswissenschaften übertragen, also einen Szientismus betreiben.
Dabei entwickelt man offensichtlich bei der eigenen Entmündigung kein Störgefühl mehr. So schlägt zB Richard Susskind Online-Courts (Susskind, online courts and the future of justice) vor. Durch eine Analyse aller bestehenden Entscheidungen soll prognostiziert werden, wie Gerichte einen konkreten Fall entscheiden würden und die Prognose an die Stelle der Gerichtsentscheidung treten. Gerichtsentscheidungen werden hierzu nach formalen nichtjuristischen Kriterien analysiert und dabei dekonstruiert. Der dogmatische Begründungszusammenhang wird aufgelöst und bestimmte Urteilspassagen als N-Gramm erfasst. Unter einem Gramm versteht man entweder einzelne Buchstaben oder Wörter. N drückt die Anzahl der Buchstaben oder Wörter aus, welche zu einem N-Gramm für die Analyse zusammengefasst werden. Die so gewonnenen Rohdaten werden weiter aufbereitet, indem man die Texte nach Häufigkeit der Verwendung der N-Gramme untersucht und mit Vektoren darstellt. Auf die den Urteilen zugrunde liegenden juristisch-dogmatischen Argumente kommt es dabei nicht mehr an, sondern lediglich auf eine bestimmte Mustererkennung.
Die Ironie dabei ist, dass die meisten Legal-Tech-Programme in der Programmiersprache Python geschrieben werden. Der Name Python leitet sich zwar von der Komikergruppe des surrealen britischen Humors, Monty Python, ab. Zugleich ist Python aber auch der Name der Drachin, die das Orakel von Delphi bewacht hat. Von dort machte die Priesterin Pythia, durch Dämpfe in einen rauschhaften Zustand versetzt, ihre Weissagungen.
Die auf die KI gestützte Mustererkennung und die damit einhergehende Entscheidungsvorhersage – ob nun Gerichtsurteil oder Impfpriorisierung – machen uns zu Empfängern eines Orakelspruchs. Wir sind nicht mehr Subjekt eines solchen Verfahrens, sondern Objekt. Wir können und sollen die Entscheidungsfindung nicht mehr verstehen oder nachvollziehen. Die Entscheidung haben wir hinzunehmen wie einen Orakelspruch. War Aufklärung die Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, sind derartige Legal-Tech-Anwendungen die gesellschaftlich selbstverschuldete erneute Begründung der Unmündigkeit. Rechtliche Entscheidungsfindung wird zu einem Orakelspruch.