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JA Editorial 12/2020

Prof. Dr. Christian Wolf, Hannover

Weihnachtsbuchempfehlung der JA 2020


Das Erdbeben von Lissabon 1755 zerstörte die Stadt fast vollständig und forderte nahezu 100.000 Todesopfer. Das Erdbeben von Lissabon war
eine Herausforderung und Erschütterung des Denkens der Aufklärung. Es spiegelte sich in Kleists Das Erdbeben in Chili genauso wider wie
in Voltaires Candide, einer Satire auf die Theodizee-Konzeption von Gottfried Wilhelm Leibniz. Leben wir in der besten aller möglichen
Welten, wie es Leibniz formuliert hat? Oder ist die einzige Entschuldigung Gottes für das Erdbeben von Lissabon, dass er nicht existiert, wie
Stendhal (französischer Schriftsteller, 1783 – 1842) es ausdrückt.

Ist die Covid-19-Pandemie unser Erdbeben von Lissabon? Ja und noch viel mehr! Das Erdbeben war ein einmaliges, lokal abgrenzbares Ereignis.
Die Pandemie ist weltumspannend, Ende offen. Die Pandemie stellt unser Leben und Denken vor noch nie gekannte Herausforderungen und entzieht unseren sicher geglaubten rechtlichen Parametern teilweise den Boden. Recht legt sich nicht einfach so aus. Mit der  Weihnachtsbuchempfehlung wollen wir in jedem Jahr Hinweise geben auf die geistigen Strömungen der Zeit, die uns bei Auslegung der Gesetze
beeinflussen können. In diesem Jahr ist allerdings die Jagd nach diesem Geist der Zeit besonders schwierig. Zu grundstürzend ist die  gegenwärtige Krise, zu sehr stellt sie unsere perfekte Welt, in der Epidemien nur in fernen Ländern stattfanden, infrage, zu sehr ist die Pandemie eine Beleidigung unseres Hedonismus und Narzissmus.

Über die Pandemie können wir nicht in der Retrospektive reflektieren, auch haben wir nicht vor(aus)gedacht. Wir müssen Philosophie in Echtzeit
betreiben. So auch der Untertitel des bei Reclam erschienenen Buchs von Mukerji/Mannino, Covid-19: Was in der Krise zählt, Reclam, 2020, 120 S., 6,00 EUR. So empfehlen die Autoren uns unter anderem ein Hedging-Prinzip. Was passiert, wenn der schlimmste Fall eintritt, welche Maßnahmen könnte ich ergreifen, um diesen Fall abzuwenden, und in welchem Verhältnis stehen die Gefahrenabwehrkosten zum Schadensmaß des Bad-Case-Szenarios? Covid-19 verschwindet nicht, wenn man den Kopf in den Sand steckt und es leugnet. Das Buch zeigt
auf, wie wir uns mit Denken statt »Querdenken« der Pandemie stellen können.

Ferdinand von Schirach/Alexander Kluge, Trotzdem, Luchterhand, 2020, 80 S., 8,00 EUR. Auch das zweite Buch der  Weihnachtsbuchempfehlung 2020 beschäftigt sich mit der Pandemie. Schirach und Kluge lassen uns an ihrem Gespräch teilhaben, welches sie während des ersten Shutdown geführt haben. Covid-19 ist nicht die erste Naturkatastrophe, die die Menschheit in der Neuzeit traf. Schirach und Kluge reflektieren vergangene Naturkatastrophen wie das Erdbeben von Lissabon und wie die Menschheit hierauf reagiert hat. Naturkatastrophen, so die Quintessenz, könnten echte Game Changer sein. Es ist an uns, wie wir die Chancen nutzen.

Ruud Koopmans, Das verfallene Haus des Islam, C.H.Beck, 2020, 288 S., 22,00 EUR. Das Erbeben von Lissabon hat in der christlichen Welt zu einer Theodizee-Diskussion geführt. In unser säkularisierten christlichen Welt kann – im Gegensatz zur islamischen Welt – Covid-19 eine solche Diskussion kaum mehr auslösen. Die jüngsten Terroranschläge in Frankreich und Wien machen eine nüchterne Analyse, was diese Terroranschläge mit dem Islam zu tun haben, dringend. Koopmans Buch leistet dies auf brillante Weise. Drei Hauptprobleme identifiziert er, warum die islamische Welt zurückgefallen ist: die fehlende Trennung von Staat und Religion, die Benachteiligung von Frauen und die  Geringschätzung von säkularem Wissen. Für den Autor geht es nicht um die Frage, ob der Islam zu uns gehört, sondern welcher Islam. Wieso, so fragt er, war es bis Anfang der 90er Jahre für uns undenkbar, Urlaub in dem Apartheitsregime Südafrikas zu machen, haben wir aber keine
Probleme, zum Tauchurlaub ans Rote Meer in die dortigen Apartheits-Regime (von niederländisch »apart«: getrennt) zu fahren, wo die Trennung
nicht nach Hautfarbe, sondern nach Geschlecht erfolgt.

Hans-Jochen Vogel, Mehr Gerechtigkeit!, Herder, 2019, 80 S., 12,00 EUR. Studierende in München, Hamburg, Köln aber auch Freiburg – und die Liste ließe sich beliebig fortsetzen – wissen, dass die Wohnungssuche und Finanzierung mindestens so eine Herausforderung sein kann wie die das Studium selbst. Der in diesem Jahr verstorbene frühere Münchener Oberbürgermeister, Wohnungsbauminister und Justizminister
im Bund und SPD-Vorsitzende hat seine Überlegungen zu einer Reform des Bodenrechts noch einmal dargelegt. In München sind die Bodenpreise von 1950 bis 2017 um 39.390 % gestiegen. Vogel kann sich mit seinem Konzept auf eine Entscheidung des BVerfG stützen, die er zitiert: »Die Tatsache, daß der Grund und Boden unvermehrbar und unentbehrlich ist, verbietet es, seine Nutzung dem unübersehbaren Spiel der freien Kräfte und dem Belieben des Einzelnen vollständig zu überlassen«, BVerfGE 21, 73 Rn. 23. Eine auch heute noch wichtig nachzulesende Entscheidung, wenn über Wohnungsmangel gesprochen wird. Vielleich trifft ja auch auf diese Frage der Hinweis von von Schirach zu: Die Pandemie hat uns gelehrt, dass der politische Entscheidungsspielraum weit größer ist als vielfach angenommen.

Philipp Gut, Jahrhundertzeuge Ben Ferencz, Piper, 2020, 352 S., 24,00 EUR. Mit den Nürnberger und den Tokioter Hauptkriegsverbrecherprozessen von 1945 bzw. 1946 begann das moderne Völkerrecht. Bei schweren Menschenrechtsverletzungen können die Täter die staatliche Souveränität nicht als Schutzwall missbrauchen, um sich dahinter gegenüber der Staatengemeinschaft zu verstecken. In diesem Jahr ist Ben Ferencz 100 Jahre alt geworden. Er ist der letzte noch lebende Chefankläger der Nürnberger Nachfolgeprozesse. Gut hat nun eine Biographie vorgelegt, die das Leben und Wirken eines der Pioniere des modernen Völkerstrafrechts beschreibt, der sich nach den Kriegsverbrecherprozessen vor allem für die Wiedergutmachung zugunsten der NS-Opfer eingesetzt hat.

Horst A. Friedrichs/Stuart Husband, Buchhandlungen. Eine Liebeserklärung, Prestel, 2020, 232 S., 36,00 EUR. Zum Schluss ein Buch für unter
den Weihnachtsbaum und zum Verlieben und Träumen. Unabhängige Buchhandlungen sind Sehnsuchtsorte. Manche der 47 in dem Buch versammelten Buchhandlungen derzeit aufgrund der Pandemie im tatsächlichen Sinne, weil sie zB in New York liegen. In dem Bildband sind beeindruckende Buchhandlungen zusammengetragen, die bei dem einen oder anderen wehmütige Erinnerungen an Auslandsaufenthalte und Urlaube auslösen. (Kein Auslandsaufenthalt ohne Buchhandlung!) Bücher erschließen einem eine Welt von Ideen, wie es die New Yorker Buchhändlerin Livia Senic-Matuglia bei der Vorstellung ihrer Buchhandlung Rizzoli in dem Buch so treffend auf den Punkt bringt.


P. S. Wenn die große Schwester …
Tobias Freudenberg, Rechtsgeschichten, C.H.Beck, 2021, 120 S., 24,90 EUR. Der Chefredakteur der NJW, Tobias Freudenberg, verfasst in der NJW regelmäßig die Kolumne »Rechtsgeschichten« und in der ZRP »Zum Schluss«. Editorials sind wie Kolumnen ein Kleinod. Aktuelle Fragen werden mit leichter Feder und feiner Ironie aufgespießt und auf den Punkt gebracht. Wie das richtig gut geht, zeigt Tobias Freudenberg in der NJW, der großen Schwester der JA, in seinen Kolumnen. Jetzt gibt es diese 50 Kolumnen aus den letzten Jahren zum Nachlesen.

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