Prof. Dr. Markus Ogorek, LL.M. (Berkeley), Universität zu Köln
Richtig ist: Schon der dogmatische Ausgangspunkt des Gerichts ist angreifbar. Die Deutung des Wahlrechts (Art. 38 I GG) als subjektives Recht auf demokratische Mitbestimmung dient ersichtlich dazu, die Zulässigkeitshürde zu überwinden und zur Begründetheit der Verfassungsbeschwerden Stellung nehmen zu können. Der grundrechtliche Kunstgriff, zu dem sich das BVerfG entschlossen hat, ist allerdings nicht neu. Er begegnete uns zB bereits in der Maastricht-Entscheidung und auch im Urteil zum Vertrag von Lissabon (2009). Die Kritik an der rechtstechnischen Konstruktion eines demokratischen Mitbestimmungsrechts hielt sich bislang – überraschenderweise – in Grenzen. Vielleicht lag das auch daran, dass nur wenige dem BVerfG zugetraut haben, in einem konkreten Fall eine Kompetenzüberschreitung von Unionsorganen festzustellen.
In der Sache erhebt das Gericht den Vorwurf, Bundesregierung und Bundestag hätten die EZB nicht in dem gebotenen Maße dazu angehalten, die Verhältnismäßigkeit der im Rahmen des PSPP getroffenen Maßnahmen zu prüfen und diese Prüfung zu dokumentieren. Nach Ansicht der Karlsruher Richter hätten insbesondere die weitreichenden ökonomischen Auswirkungen des Programms auf die Bürgerinnen und Bürger berücksichtigt werden müssen. Ganz aus der Luft gegriffen ist es nicht, wenn das BVerfG in diesem Zusammenhang auf die gravierenden Folgen des PSPP für Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer hinweist (Rn. 173).
Das PSPP zielt bekanntlich auf eine Ausweitung der Geldmenge sowie darauf ab, die Inflationsrate in der Eurozone auf einen Wert von knapp 2% p.a. anzuheben. Wenn das BVerfG verlangt, die ökonomischen Folgen der zur Verwirklichung dieses Ziels eingesetzten Maßnahmen im Auge zu behalten, wirkt diese Forderung keineswegs überzogen. Es dürfte der EZB nicht schwer fallen, die als fehlend angemahnte Verhältnismäßigkeitsprüfung in den drei Monaten, welche das BVerfG hierfür einräumt, in dokumentierter Form nachzureichen. Auf der anderen Seite mutet es etwas verwegen an, das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu einer Kompetenzschranke zu erklären. Der Verzicht auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung soll das Handeln der EZB nicht nur unionsrechtswidrig machen (hierüber hätte allein der EuGH zu entscheiden), sondern sogar zu einer Kompetenzüberschreitung führen, was dem BVerfG nach dessen eigenem Bekunden die erforderliche Prüfungskompetenz vermittelt. Zweifel an der Argumentation des BVerfG sind auch mit Blick darauf angezeigt, dass die Europäische Zentralbank nur ein geldpolitisches Mandat hat (Art. 127 II AEUV). Wenn sie nun auch die allgemeinen ökonomischen Auswirkungen ihrer Geldpolitik bei Entscheidungen berücksichtigen soll, betritt sie dann nicht letzten Endes das Feld der Wirtschaftspolitik und überschreitet die ihr gesetzten Kompetenzgrenzen?
Hart ins Gericht geht das BVerfG mit den Richterkollegen am EuGH. Die Vereinbarkeit des PSPP mit dem Europarecht hatte der Gerichtshof 2018 auf Vorlage des BVerfG geprüft und die Europarechtskonformität bejaht. Diese Entscheidung des EuGH soll nach Einschätzung des BVerfG selbst ein Ultra-vires-Akt und als solcher nicht bindend sein. Gescholten wird das BVerfG von vielen nicht nur für diese Sicht der Dinge, sondern ausdrücklich auch für die Tonalität (»schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar«, »objektiv willkürlich«) der betreffenden Urteilspassagen (Rn. 118 ff.), die einer vertrauensvollen Zusammenarbeit im europäischen Rechtsprechungsverbund abträglich sei. Diese Kritik lässt sich nicht allein mit dem Hinweis darauf entkräften, die – teilweise überzogene – Wortwahl des BVerfG rücke den Ausnahmecharakter der PSPP-Entscheidung in den Vordergrund. Umgekehrt greift es zu kurz, die zugespitzten Formulierungen der PSPP-Entscheidung als Ausdruck der Selbstüberschätzung eines in die Jahre gekommenen und unter seinem Bedeutungsverlust leidenden Verfassungsgerichts abzutun.
Die Entscheidung des BVerfG ruft in Erinnerung, dass in den Mitgliedstaaten immer noch kein tragfähiger Konsens darüber gefunden wurde, wer über die Einhaltung der Integrationsgrenzen wachen soll. Natürlich ist es denkbar, dass einzelne Mitgliedstaaten auf das Judikat Bezug nehmen werden, um ihr eigentümliches – und manchmal auch zweifelhaftes – Rechtsstaats- und Demokratieverständnis gegen den EuGH zu verteidigen. Aber hätte das BVerfG deshalb wirklich schweigen sollen? Wenn letztlich nur noch der EuGH darüber entscheidet, ob die Unionsorgane sich innerhalb des für sie geltenden Kompetenzrahmens bewegen, ist man einer sog. Kompetenz- Kompetenz, wie sie für Staaten, nicht aber für den europäischen Staatenverbund EU kennzeichnend ist, ziemlich nahegekommen. Selbstredend bleibt es der Kommission unbenommen, in Reaktion auf das Urteil aus Karlsruhe ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland einzuleiten. Klüger wäre es freilich, in einem möglichst breiten politischen Diskurs das zur europapolitischen Handlungsmaxime ausgerufene »Weiter so«, das geflissentlich über den Brexit und die um sich greifende Entfremdung zwischen den Mitgliedstaaten hinwegsieht, endlich auf den Prüfstand zu stellen. Wo der EuGH als Motor der Integration an rechtliche Grenzen stößt, müssen die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge die Integration selbst vorantreiben – auch und gerade im Interesse eines starken EuGH.