Prof. Dr. Christian Wolf, Hannover
Geschlossene Bibliotheken? So offen wie jetzt waren die virtuellen Bibliotheken noch nie. Sowohl das JA-Modul als auch beck-online sind freigeschaltet, jeweils von zuhause via VPN. Gleiches gilt für Beck-eLibrary und Nomos-eLibrary. Damit ist der Zugriff auf die wichtigsten Lehrbücher online möglich.
Geschlossenes Hörsaalgebäude, offener virtueller Hörsaal. Derzeit finden die Vorlesungen online statt. Für alle ein großes Experiment mit vielen Fragen. Welches Format? Moodle oder Stud.IP? Und warum muss eigentlich Open-Source-Software immer so IT-Nerd-lastig daherkommen und die Angebote der GAFAs, also der Digitalmonopolisten Google, Apple, Facebook und Amazon (Akronym: GAFA), so cool? Synchron oder asynchron? Und wenn synchron: Zoom? GoToMeeting? Microsoft Teams? WebEx?
Welche Funktion hat eigentlich eine Vorlesung? Warum Vorlesung und nicht Lehrbuch oder JA? Ursprünglich bedeutete Vorlesung wirklich »vor lesen«. Nicht alles was geschrieben wurde, wurde zunächst auch gedruckt. Hegels Philosophie der Geschichte oder Savignys juristische Methodologie sind veröffentlichte Vorlesungsmitschriften. Auch zu meinen Studienzeiten waren ausgearbeitete Vorlesungsmanuskripte noch der Standard. Und heute?
Überhören gilt eigentlich als commentwidrig. Daher wissen Professor/-innen in der Regel nicht, wie Kollegen Vorlesungen halten. Asynchrone Vorlesungen eröffnen nie geahnte Möglichkeiten der Betriebsspionage. Für Kunsthistoriker oder Kulturwissenschaftler eine stilistische Fundgrube. Wir alle inszenieren uns, auch diejenigen, die sich bewusst nicht inszenieren. Bücherregale als Hintergrund sind ebenso naheliegend wie beliebt – klassisch mit juristischen Kommentaren, Lehrbüchern oder alten Folianten. Mal findet sich Justitias Waage im Bücherregal, mal ein BVB-Schal, für den es derzeit an anderweitiger Einsatzmöglichkeit mangelt. Mal gibt der Professor seiner Vorlesung überhaupt kein Gesicht, nur die PowerPoint-Folie spricht mit einem. Lehre aus dem Off. Mal reduziert man sich selbst auf eine kleine Bildschirmecke, und der Bildschirm wird von PowerPoint beherrscht. Besonders beeindruckend: Der Dozent steht vor einem Pult, neben ihm eine barockisierte Kommode mit einem großen Bildschirm, auf dem die PowerPoint-Präsentation gezeigt wird. Wenn dann zu Beginn noch ein Jingle ertönt!
Überhaupt: PowerPoint! Bis auf diejenigen Kollegen, die Podcasts veröffentlichen, scheint kaum mehr jemand an PowerPoint vorbeizukommen. Angeblich gehören PowerPoint-Folien zum Standardwerkzeug guter Didaktik. Oder ist dies nur eine Erfindung der GAFA?
Vorlesungen sollen mehr sein als das »Vor Lesen« von Büchern, sie sollen Lust auf ein Fach machen, sie sollten zum mit- und weiterdenken einladen, sie sollten manches mit einem dickeren Strich unterstreichen, als dies in Büchern möglich ist. Auch (scheinbare) Trivia haben in Vorlesungen Platz, die man sonst – trotz Internet – lange suchen muss. Wie ist zB das Aktenzeichen des BGH aufgebaut und was bedeutet es? Sicherlich: Noch schnell das letzte Kapitel der Vorlesung durchgezogen, und nach der letzten Vorlesungsstunde in der letzten Vorlesungswoche im Sommersemester winkt in Vor-CoronaZeiten der Biergarten. Und dann meldet sich schon wieder der Student in der zweiten Reihe mit einer Frage – ade Biergarten, das nervt!
Aber wir alle brauchen das Feedback aus dem Hörsaal. Diejenigen von uns, die so weitsichtig waren, in den letzten Semestern ihre Vorlesungen aufzuzeichnen, können mit dem Publikum spielen, auf das Publikum eingehen und dort, wo man an den Gesichtern ablesen kann, dass man nachlegen muss, nachlegen. Diejenigen, die vor dem Rechner die Vorlesung aufzeichnen, können dies nicht, und auch die, die die Vorlesung synchron halten, können dies viel weniger als im Hörsaal. Zumal, wenn die Zuhörer nicht Gesicht zeigen, also die Kamera ausgeschaltet lassen.
In den amerikanischen Law Schools gibt es für jeden Dozenten ein Facebook – Mark Zuckerberg hat Facebook nicht erfunden, sondern plagiiert – mit Foto und Sitzposition im Hörsaal. Man kann die Studierenden namentlich ansprechen und Fragen stellen (sokratische Methode). Die Programme wie WebEx lassen dies zu. Vorausgesetzt die Studierenden zeigen Gesicht und Namen. Und es gibt etwas zu fragen, weil die Studierenden sich vorbereitet haben, die reading assignment gelesen haben.
90 Minuten Online-Vorlesung geht bei vielen deutlich über die Konzentrationsgrenze hinaus. Online ist halt doch nicht offline. Warum nicht 45 Minuten Vorlesung und 45 Minuten reading assignment. Wir alle müssen neu lernen und uns in der neuen Realität von Covid-19 zurechtfinden. Wir sollten – auch wenn wir den Hörsaal vermissen – neue Wege ausprobieren.
P. S. Wem der Begriff »Zoomsuit« aus dem Titel nicht geläufig ist, dem sei das folgende Video empfohlen: https://bit.ly/3bf4X0I