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JA Editorial 12/2019

Prof. Dr. Christian Wolf, Hannover

Weihnachtsbuchempfehlung der JA 2019

Umbrüche, Zeitenwenden also, erkennt man in der Regel erst in der Retrospektive. Wir durchleben derzeit eine Zeit des Paradigmenwechsels. Jedenfalls schwinden alte Gewissheiten. Klimawandel, Entscheidungsfindung durch Algorithmen, Aufstieg von autoritären Regierungen und der AfD in Deutschland; Brexit und ein Europa, dessen Rule of Law in zunehmendem Umfang von einigen Mitgliedstaaten infrage gestellt wird; ein Präsident Trump, der Anstands- und Schamlosigkeit zum politischen Programm macht; religiöser Fundamentalismus, um nur einige Stichworte zu nennen. Auch Black Letter Law ist niemals unbeeinflusst von den geistigen Strömungender Zeit. Oder in den Worten des  Bundesverfassungsgerichts: Auch Gesetze sind durch einen Wandel der sozialen Verhältnisse und gesellschaftspolitischer Anschauungen einem Alterungsprozess unterworfen. Dem muss bei der Auslegung Rechnung getragen werden (NJW 2004, 2662). Die diesjährige Weihnachtsbuchempfehlung befasst sich mit vier Büchern zu Umbrüchen und zwei Büchern, die sich unter jedem Tannenbaum gut machen.
Frank Bösch, Zeitenwende 1979 - Als die Welt von heute begann, C.H.Beck, 6. Aufl. 2019, 512 S., 28,00 EUR. Auf den ersten Blick liegt es nicht nahe, 1979 als das Jahr zu betrachten, in dem der Wandel der Welt seinen Ausgangspunkt nahm. Historische Zäsuren würde man eher 1949 oder 1989 mit dem Fall des Eisernen Vorhangs zuordnen. In 10 Kapiteln, von der Revolution im Iran über die Wahl Papst Johannes Paul II., der Wahl Thatchers zur britischen Premierministerin, dem AKW-Unfall bei Harrisburg und der Gründung der Grünen, erzählt Bösch die Geschichte der Gegenwart und wie sich diese in ihren Widersprüchlichkeiten entwickelt hat. Er trägt dabei eine Vielzahl von Details zusammen, die auch für denjenigen, der die Zeit miterlebt hat, in der Zusammenschau überraschend sind. Entwicklungslinien werden so erzählt verständlich. 

Das Internet begann vor 50 Jahren als Arpanet. Damit sollten Großrechner miteinander vernetzt werden, um eine höhere Rechnerleistung zu erhalten. Heute steht uns auf unseren Laptops ein Vielfaches der Rechnerleistung von damals zur Verfügung. Die mathematischen Grundlagen haben sich aber seither nicht verändert. Daher lassen sich bis heute komplexe Probleme nicht rechnen, ohne die Probleme rechenbar zu machen, sprich die Wirklichkeit dem Computer anzupassen. James Bridle, New Dark Age, C.H.Beck, 2019, 320 S., 25,00 EUR, beschreibt, wie das Computerdenken unseren Zugang zur Welt verändert hat. Die Computerisierung verschmilzt Vergangenheit und Zukunft, weil der Computer nur aus den Mustern der Vergangenheit auf die Zukunft schließen kann. Was sich nicht in etablierte Muster einfügt, was ungewiss oder widersprüchlich ist, wird aus dem Feld möglicher Zukunftsentwürfe ausgeschlossen, so Bridle. Diese Zentralthese erklärt er anhand unterschiedlicher Beispiele. 

Wie sich eine Gesellschaft durch Algorithmen verändern kann, die Grundlagen eines humanen Zusammenlebens zerstören kann, verdrängen wir bei unserer Legal-Tech-Euphorie gerne. In China ist die Wirklichkeit bereits sehr nahe an die Fiktion der dystopischen Romane von Aldous Huxley, Brave New World, und George Orwell, 1984, herangerückt. Kai Strittmatter, der Korrespondent der Süddeutschen in China war, hat in »Die Neuerfindung der Diktatur«, Piper, 7. Aufl. 2019, 288 S., 22,00 EUR, beschrieben, wie sich China mit KI verwandelt. Im Wesentlichen sieht Strittmatter drei Mittel, mit denen die Kommunistische Partei China verändert hat: eine Umdeutung von Sprache und Begriff, verbunden mit einem massenhaften parteitreuen Cheerleading (»Lange lebe der chinesische Traum«) sowie eine Narkotisierung der Gesellschaft durch Konsum. Was in den USA der Black Friday ist, ist in China der Tag der Singles, der den Black Friday längst in den Schatten stellt. Plastisch formuliert Strittmatter: »Der Weltkommunismus ist tot, der Weltkonsumismus hat in China sein neues Hauptquartier aufgeschlagen.« Und schließlich ein auf KI-Technik basierendes breitflächiges Überwachungssystem: »Viper«, ein IT-System zur Überwachung, soll schon bald 100.000 Kameras gleichzeitig automatisch steuern und auswerten können. Urteile werden in einigen Provinzen schon heute mit KI vorbereitet, und in Shenzhen werden Fußgänger, die bei Rot über die Straße gehen, in Echtzeit an einen elektronischen Pranger gestellt, der Name, Adresse und Nummer des Personalausweises an der betreffenden Kreuzung aufleuchten lässt. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der räumlichen Größe eines Herrschaftsgebildes und den demokratischen Teilhabemöglichkeiten? Dieser Frage geht Dirk Jörke, Die Größe der Demokratie, edition suhrkamp, 2019, 283 S., 18,00 EUR, nach. Solidarität lässt sich in einem Gebilde wie der Europäischen Union zwischen den Bürgern im Norden Europas und denen im Süden, die kaum über ökonomische Gemeinsamkeiten verfügen, schwer einfordern. Weil partizipatorische Teilhabe auch immer eine Frage der Größe des Herrschaftsgebildes ist, hat sich der Demokratiebegriff in Europa gewandelt. An die Stelle der Legitimation von unten tritt Legitimation durch »good governance«, also rationale Entscheidungen und Rechtsstaatlichkeit. Seine Kritik an der EU entwickelt Jörke unter anderem in einer Auseinandersetzung mit den »Federalist Papers«, die im Rahmen der Ratifizierung der amerikanischen Verfassung geschrieben wurden. Lesenswert ist das Buch, weil Jörke nicht einem chauvinistischen Nationalstaat das Wort redet, sondern für eine demokratische Selbstbestimmung streitet, welche er in einer europäischen Konföderation verwirklicht sehen will, die Kompetenzen auf die Mitgliedstaaten wieder zurückverlagert. Unter Berufung auf Dieter Grimm (»Europa ja, aber welches?«) fordert er, dass der EuGH politischeFragen nicht mehr im Modus des Verfassungskonstitutionalismus entscheidet. 

Zum Schluss: »Brauner Kuchen, Marzipan, der Duft des Tannenbaums und ein Puter, gefüllt mit einem Brei von Maronen, Rosinen und Äpfeln sowie die Klänge von O Tannenbaum.« So beschreibt Thomas Mann Weihnachten bei den Buddenbrooks. Die Weihnachtsbuchempfehlung endet in diesem Jahr mit zwei bzw. drei bildungsbürgerlichen Buchempfehlungen für den Gabentisch und die Weihnachtsfeiertage: 

In diesem Jahr jährt sich der Geburtstag von Alexander von Humboldt zum 250. Mal. Alexander von Humboldt erschloss der damaligen Welt auf eine völlig neue Weise die Natur und ihre Zusammenhänge. Er wies bereits 1800 auf die zerstörerische Abholzung des Regenwalds hin. Andrea Wulf hat nun eine Biographie über Alexander von Humboldt vorgelegt (Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur, Bertelsmann, 2019, 560 S., 24,99 EUR). Parallel dazu ist, gleichfalls von Andrea Wulf, in Comic-Form erschienen: Die Abenteuer des Alexander von Humboldt, Bertelsmann, 2019, 272 S., 28,00 EUR. Illustriert wurde das Werk von Lillian Melcher. Basierend auf den Tagebüchern Humboldts erzählt das Buch seine Südamerikareise.

»Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.« Die Ideen einer Epoche werden nirgends so im wahrsten Sinne des Wortes plastisch verkörpert wie in Architektur und Kunstwerken. Kunstgeschichte ist nicht das stupide Aufsagen von historischen Daten von Fremdenführern, sondern das Erschließen eines religiösen, philosophischen, staatstheoretischen Gedankengebäudes. Volker Reinhardt, Die Macht der Schönheit, C.H.Beck, 2019, 651 S., 110 Abbildungen, davon 50 in Farbe, 38,00 EUR, ist in diesem Sinne Kunstgeschichte at its best. In dem Buch kann man sich an jeder Seite festlesen. Hier wird, um ein Beispiel zu nennen, lebendig, warum die Architektur des Schlosses von Stupinigi in Turin Ausdruck des  Absolutismus ist, ganzheitliche Machtausübung, die alleine Gott verantwortlich ist. Fontana di Trevi, der berühmte Brunnen in Rom, wird als Sinnbild für die Fürsorge der Päpste erklärt und in einen Zusammenhang mit deren antikapitalistischer Wirtschaftslehre im ausgehenden 18. Jahrhundert gestellt. Selbstverständlich dürfen bei einem Buch über die Kulturgeschichte Italiens Mode, Fußball und Film nicht fehlen.

P. S.: Die Bücher habe ich in der Buchhandlung Lehmkuhl in München und bei Dussmann das KulturKaufhaus in Berlin gefunden bzw. jeweils von einer Buchhändlerin empfohlen bekommen. Zugegeben, Amazon ist bequemer, aber deutlich weniger kommunikativ und kreativ. Der Algorithmus sperrt bekanntlich aus, für was ich mich bislang noch nicht interessiert habe (siehe Bridle). Buchhändler tun dies nicht.
 

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