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JA Editorial 11/2019

Rechtsanwalt Dr. Dr. Jürgen Rühmann, Vizepräsident des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes a.D., Präsident des Sächsischen Finanzgerichts a.D.

Revolution im Wahlprüfungsrecht? – Ein kleiner Schritt …


Die AfD stellte ihre Landesliste für die sächsische Landtagswahl am 1.9. 2019 auf. Dabei reichte ihr das geplante eine Wochenende nicht, weshalb sie das Verfahren ab Platz 19 an einem weiteren Wochenende, rund einen Monat später, fortsetzte. Wie schon für die ersten 18 Plätze führte sie bis einschließlich Platz 30 jeweils eine Einzelwahl durch. Da es aber wieder zeitlich knapp zu werden drohte, änderte sie das Wahlverfahren ab Platz 31 bis Ende (Platz 61) in eine Gruppenwahl.
Der Landeswahlausschuss störte sich an beidem und ließ daher nur die ersten 18 Kandidaten zu.

Die AfD ebenso wie betroffene Listenkandidaten riefen daraufhin mit Verfassungsbeschwerden den Sächsischen Verfassungsgerichtshof an und beantragten zugleich, die gesamte Landesliste bzw. ihre eigene Person im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zur Landtagswahl zuzulassen.

In seinem Urteil vom 25.7. 2019 (Vf. 77-IV-19 [e.A.]/Vf. 82-IV-19 [e.A.]) ordnete der Verfassungsgerichtshof an, dass auch die Listenkandidaten auf den Plätzen 19 bis 30 zur Landtagswahl vorläufig zugelassen werden, nicht jedoch die weiteren Kandidaten. Durch Urteil vom 16.8. 2019 zu den Verfassungsbeschwerden selbst (Vf. 76-IV-19 [HS]/Vf. 81-IV-19 [HS]) bestätigte er diese Entscheidungen.

Bislang war es durchgehende Rechtsprechung aller Verfassungsgerichte, dass Wahlfehler nur im Nachhinein beim Parlament mit einem Wahleinspruch und bei dessen Abweisung mit einer verfassungsgerichtlichen Wahlprüfungsbeschwerde gerügt werden können. Konsequenz ist, dass dann, wenn in dem gerügten Verfahren tatsächlich ein Wahlfehler von erheblichem Gewicht und großer »Mandatsrelevanz« liegt, die Wahl für ungültig zu erklären ist und (landesweite) Neuwahlen zu verfügen sind.

Wenn sich allerdings bereits im Vorfeld der Wahl ein solch schwerwiegender Wahlfehler deutlich abzeichnet, bedeutet das, dass nicht nur die Kandidaten, sondern auch alle Wählerinnen und Wähler »sehenden Auges in die Katastrophe geschickt« werden.

Diese drohende Konsequenz stand dem Verfassungsgerichtshof vor Augen, als er sich mit den Anträgen beschäftigte und dabei rasch erkannte, dass – anders als die Streichungen ab Platz 31 – die Beanstandung der Listenkandidaten auf den Plätzen 19 bis 30 nicht haltbar sein würde, war doch die zweite Wahlversammlung richtigerweise als Fortsetzung der ersten anzusehen und auch für diese Kandidaten jeweils die Einzelwahl durchgeführt worden. Der Gerichtshof hielt die Verfassungsbeschwerden daher insoweit für zulässig und begründet, weil hinsichtlich dieser Listenplätze ein »besonders qualifizierter Rechtsverstoß« eines Wahlorgans vorliege, der »voraussichtlich einen Wahlfehler von außerordentlichem Gewicht begründete, der erst nach der Wahl beseitigt werden könnte und möglicherweise zu landesweiten Neuwahlen führte«. Eine Revolution?

Ausgangspunkt ist, dass auch das Wahlrecht zu den verfassungsbeschwerdefähigen Grundrechten zählt (Art. 81 I Nr. 4 iVm Art. 4 I und II SaVerf). Zwar betont der Verfassungsgerichtshof nach wie vor, dass das nachträgliche Wahlprüfungsverfahren grundsätzlich wirkungsvoll genug sei, um dieses Grundrecht zu schützen. Dennoch hat er anerkannt, dass es an dieser Wirkungskraft dann fehlt, wenn – wie im vorliegenden Fall hinsichtlich der Listenplätze 19 bis 30 – ein gravierender Wahlfehler der Wahlorgane offenkundig erscheint und mit hoher Wahrscheinlichkeit solche Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments haben würde, dass ihnen nachträglich nur durch Ungültigerklärung der Wahl und landesweite Neuwahlen beigekommen werden könnte. Effektiven Grundrechtsschutz biete in einer solchen Lage nur die vor der Wahl zu erhebende Verfassungsbeschwerde.

Ich halte diese Entscheidung für absolut zutreffend. Der Gerichtshof hat auf diese Weise ein hohes Risiko von der anstehenden Landtagswahl genommen und damit auch und vor allem den Wählerinnen und Wählern nahezu die Gewissheit gesichert, dass ihre Wahlteilnahme nicht vergeblich gewesen sein wird. Zumal bei der Demokratieverdrossenheit, die der Bevölkerung in den nicht mehr so neuen Bundesländern – wie nunmehr die Wahlbeteiligung zeigt: zu Unrecht – vielfältig nachgesagt wird, ist dies ein besonderer Wert. Und auch was das Wahlergebnis angeht, hat die Entscheidung aus der Sache »die Luft herausgelassen«. Dies selbst dann, wenn man – anders als der Verfassungsgerichtshof – die Nichtzulassung der Kandidaten Nr. 31 bis 61 gleichfalls als rechtswidrig ansehen wollte. Abgesehen davon, dass kaum anzunehmen ist, dass der Verfassungsgerichtshof im Wahlprüfungsverfahren – anders als bislang – zu eben dieser Einschätzung gelangen würde, hätte ein darin liegender Wahlfehler kaum noch Mandatsrelevanz: Die AfD hat nicht nur die 30 Listenkandidaten in den Landtag gebracht, sondern zusätzlich weitere acht Direktkandidaten. Nach dem Zweitstimmenergebnis stünden ihr 39 Sitze und damit genau einer mehr zu. Auch im »worst case« wäre der AfD dann nur ein einziger Sitz im Landtag zu Unrecht vorenthalten worden (sowie die Möglichkeit, etwa zwischenzeitlich ausscheidende Abgeordnete durch nachrückende Listenkandidaten zu ersetzen). Darin aber würde der Verfassungsgerichtshof mit aller Wahrscheinlichkeit keinen so gravierenden Fehler erblicken, dass er die Landtagswahl für ungültig erklären und Neuwahlen anordnen würde.

Fazit: Die Zulassung der zwölf weiteren Listenkandidaten mag für sich genommen nur als kleiner Schritt eines Landesverfassungsgerichts angesehen werden, um die Gefährdung einer Landtagswahl abzuwenden. Ganz im Sinne des bekannten Spruchs von Neil Armstrong beim Betreten des Mondes als erster Mensch handelt es sich aber doch zugleich um einen großen Schritt, und zwar für das gesamte Wahlrecht und seine verfassungsgerichtliche Gewährleistung. Man darf gespannt sein, welchen Auftrieb dieser wichtige Schritt der schon länger laufenden rechtlichen und rechtspolitischen Diskussion zum Wahlprüfungsrecht geben wird.

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