Prof. Dr. Hans Kudlich, Universität Erlangen-Nürnberg
Freilich ist die Diskussion um den Handlungsbegriff zumindest über weite Strecken nicht von vorstrafrechtlichen Prämissen geleitet. Vielmehr ist die tradierte Handlungsdefinition, die jedenfalls ein menschliches Verhalten voraussetzt, gewiss auch als eine Reaktion darauf zu verstehen, dass in der lex lata keine Verbandsstrafbarkeit, sondern nur eine Strafbarkeit natürlicher Personen vorgesehen ist. Insoweit ist davon auszugehen (und im Übrigen auch ganz legitim), dass der Handlungsbegriff – obgleich er gleichsam eine »Grundgröße« bilden soll – letztlich akzessorisch zur geltenden Rechtslage bestimmt worden ist. Auch die schon heute mit dem Schuldbegriff häufig verbundenen Normativierungen machen deutlich, dass die Konstruktion eines »schuldhaften Verbandshandelns« durch den Gesetzgeber kaum außerhalb des Möglichen liegen dürfte. Soweit hiergegen das Schuldprinzip in Ansatz gebracht wird, das eine solche »Fiktion« verbiete, ist zu berücksichtigen, dass dieses Prinzip gerade in der Menschenwürde wurzelt und daher auf juristische Personen ohnehin jedenfalls nicht in den Ausprägungen Anwendung finden kann und muss, in welchem man es für natürliche Personen heranzuziehen hat.
Wie auch immer man dazu steht – der Gesetzgeber würde das Problem dadurch entschärfen, wenn er dem Entwurf entsprechend nicht von einem Strafrecht, sondern von einem Verbandssanktionenrecht spricht, das irgendwo zwischen dem Ordnungswidrigkeitenrecht und dem Strafrecht anzusiedeln wäre. Wer hier vorschnell den Vorwurf eines Etikettenschwindels erhebt, sollte bedenken, dass auch die besonderen Anforderungen, die an eine Strafsanktion (und damit etwa an eine Geldstrafe gegenüber einem zahlenmäßig identischen Bußgeld) gestellt werden, letztlich in einer mehr oder weniger formalen Weise der Einordnung als »Strafe« festgemacht werden.
Viel wichtiger als solche grundsätzlichen Bedenken, die letztlich durch einen gesetzgeberischen Wertungsakt zumindest für die Praxis überwunden werden können, wird die konkrete Ausgestaltung des Gesetzes sein. Wesentliche Bedeutung wird hier nicht zuletzt auch den prozessualen Regelungen zukommen, soweit diese sich nicht in einer bloßen Verweisung auf das Ordnungswidrigkeitenverfahrens- oder Strafverfahrensrecht (welches nach § 46 OWiG ohnehin auch für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten bedeutsam ist) erschöpft. Stichwortartig können hier etwa genannt werden
- die Vertretung des Verbandes, da ersichtlich Interessenkonflikte auftreten können, wenn neben einem Verfahren wegen der Verbandssanktion zugleich auch ein Strafverfahren gegen die Organe droht;
- die Geltung des Nemo-tenetur-Grundsatzes, wenn einerseits kaum allen Unternehmensmitarbeitern ein abgeleitetes Zeugnisverweigerungsrecht zukommen kann, andererseits aber die Zahl der ein Unternehmen belastenden Personen gegenüber der aussageverweigerungsberechtigten Privatperson und ihren häufig zeugnisverweigerungsberechtigten Bezugspersonen unübersehbar groß ist;
- die Regelung von internen Ermittlungen, welche in der jüngeren Vergangenheit bereits eine große Rolle bei Straftaten in Unternehmen gespielt haben, für die befragten Mitarbeiter aber etwa aufgrund möglicher Konflikte zwischen arbeitsrechtlichen Mitwirkungspflichten und strafprozessualen Schutzrechten problematisch sind;
- die Bedeutung von Compliance-Maßnahmen, sei es vor der Tatbegehung, sei es als Reaktion darauf, welche sanktionsausschließend oder zumindest deutlich sanktionsmindernd wirken könnten.
Mit Blick auf die justiziellen Ressourcen wird auch eine interessante Frage sein, ob die Verbandssanktionen – wie bislang Ordnungswidrigkeiten – nur nach Maßgabe des Opportunitätsprinzips verfolgt werden oder aber ob ein dem Legalitätsprinzip im Strafverfahren gegen natürliche Person entsprechender Verfolgungs- und Ermittlungszwang besteht.
Nicht nur, weil zu solchen und anderen Fragen das letzte Wort der gesetzlichen Formulierung noch nicht gesprochen ist, erscheint es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ganz einfach, die praktische Bedeutung eines Verbandssanktionenrechts abzuschätzen. Blickt man freilich insbesondere auf solche Rechtsordnungen, welche eine »Strafbarkeit juristischer Personen« schon länger kennen, steht zu erwarten, dass die Relevanz für bestimmte Kriminalitätsfelder durchaus erheblich sein wird. Juristen in der Ausbildung haben hier die Möglichkeit, das Entstehen eines völlig neuen Phänomens vom Inkrafttreten des Gesetzes an mit zu verfolgen und sich später vielleicht einmal in dieser Materie »unbefangener« zu bewegen als Juristen, die in ihrer praktischen Tätigkeit 20 Jahre lang ohne ein Verbandssanktionenrecht »sozialisiert« worden sind. Eine interessante berufliche Option stellt dieses Feld voraussichtlich alle Mal.