Editorial JA 7/2019
Prof. Dr. Hans Kudlich, Universität Erlangen-Nürnberg
Digitalisierung – von der Straftat bis zum Urteil
War 2013 das Internet für uns alle, naja: für fast alle, oder sagen wir: für manche von uns noch »Neuland«, kann man heute mit den Schlagworten vom »Siegeszug des Internet« oder von der »Eroberung unseres gesamten Lebens durch digitale Datenverarbeitung« oder ähnlichem niemanden mehr beeindrucken. Und doch: Wohin man blickt, werden gegenwärtig Themen wie internetbasierte Straftaten, Digitalisierung des Strafverfahrens oder Künstliche Intelligenz – und zwar auf Täter- wie auf Strafverfolgungsseite – bespielt.
Vielleicht ist es auch eine subjektive und ganz zufällige Wahrnehmung, aber die Beispiele aus meiner persönlichen Erfahrungswelt der letzten Tage und Wochen sind Legion: Bei den Buchanzeigen stößt man auf Karsten Gaedes kleine Monographie zum Thema »Künstliche Intelligenz – Rechte und Strafen für Roboter? Plädoyer für eine Regulierung künstlicher Intelligenz jenseits ihrer reinen Anwendung«, an meiner Heimatuniversität Erlangen wurde soeben ein Graduiertenkolleg der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Thema »Cyberkriminalität und Forensische Informatik« (unter Beteiligung des Departements Informatik und des Instituts für Strafrecht) bewilligt (https://www.cybercrime.fau.de/), Tagungsankündigungen laden ein zu einem Workshop nach Hamburg zum Thema »Strafrecht und Digitalisierung in Wissenschaft und Praxis« oder zu einer Tagung nach Leipzig zum Thema »Strafverfahren und Digitalisierung« (https://medienstrafrecht.jura.uni-leipzig.de/download/0/0/1875087184/92b665dd05a3bbcdea894fc9ecb5671c01f6019c/
fileadmin/medienstrafrecht.jura.uni-leipzig.de/uploads/Veranstaltungen/Tagung_Strafverfahren_und_Digitalisierung/Tagung_Strafverfahren_und_Digitalisierung.pdf), und auf kaum einer Tagung, die sich irgendwie mit den Zukunftsperspektiven des Strafrechts befasst, werden »Digitalisierung« und »Künstliche Intelligenz« nicht als die maßgeblichen Herausforderungen genannt. Auch die JA hat da keine Ausnahme gemacht und im letzten Quartal 2018 in drei Heften jeweils Spitzenaufsätze zu den Themen »KI«, »Autonomes Fahren« und »Digitalisierung in der Juristenausbildung « gebracht.
Der Paradigmenwechsel, der sich hier möglicherweise abzeichnet, besteht darin, dass nicht mehr – wie etwa Mitte/Ende der 1990 er Jahre – nur eine kleine Gruppe von besonders interessierten Experten sich mit Themen wie »Internet-Kriminalität« befasst, sondern dass Digitalisierung und Informationstechnologie – auch demographisch bedingt – inzwischen flächendeckend »angekommen« sind: In der Gesellschaft (was diese vulnerabler gegen Straftaten in diesem Bereich macht), bei denTätern (die mehr Möglichkeiten nutzen als noch vor 20 Jahren) und bei den Strafverfolgern. Das bedeutet natürlich nicht, dass heute jede Straftat einen »Internetbezug« hätte oder gar von einem intelligenten Roboter begangen worden wäre. Und es heißt auch nicht, dass alle auftretenden Fragen neu und nur von der Technik her zu beantworten wären. Vielmehr ist das Spektrum weit und reicht von dem mehr oder weniger peripheren Umstand, dass eine tatbestandlich erforderliche Kommunikation (zB beim Betrug) mittels einer E-Mail erfolgt ist, über die Frage nach der (möglicherweise durchaus unbeabsichtigten) Auswirkung der Involvierung moderner Technik auf altbekannte Fragen (zB zur Frage nach der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts, wenn ein nicht in Deutschland lizensiertes Online-Glücksspiel im Ausland angeboten wird, aber von Deutschland aus erreichbar ist, oder zu den Konsequenzen einer möglichen audiovisuellen Aufzeichnung einer strafrechtlichen Hauptverhandlung auf die Revision) und über den gezielten Einsatz bestimmter Techniken durch die Strafverfolgungsbehörden (etwa bei der 2017 neu in § 100b StPO eingeführten »Online-Durchsuchung«) bis zur momentan noch sehr theoretisch anmutenden Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung von oder auch für schädigende(n) Formen einer Künstlichen Intelligenz. Mit manchen dieser Fragen muss sich die Strafrechtspraxis also jetzt bereits befassen; für andere wird die Strafrechtswissenschaft gewiss noch eine Reihe von Jahren nur »im Elfenbeinturm« vordenken, ohne zu wissen, ob sie wirklich praktisch relevant werden. Aber die Grenzen zwischen beiden Bereichen sind fließend und immer in Bewegung, und wenn eine neue Frage auch praktisch werden sollte, ist es sicher sinnvoll, wenn die Probleme schon einmal durchdacht worden sind.
Junge (nicht nur Straf‑)Juristen werden deshalb in ihrem späteren Beruf vielfach bessere technische Kenntnisse benötigen als ihre Kollegen 20 oder 30 Jahre früher. Aber das ist kein Spezifikum der Juristerei, sondern gilt auch in anderen Fächern. Und alles spricht dafür, dass eine Generation, die im Umgang mit dem PC, Mobiltelefon und Internet auch ganz anders aufgewachsen ist, das auch gut bewältigen wird. Aus Sicht einer Ausbildungszeitschrift besonders wichtig ist aber Folgendes: Natürlich müssen auch wir diese Entwicklungen im Blick behalten und immer wieder einmal darauf eingehen. Aber der Schwerpunkt der juristischen Arbeit wird auch in Zukunft für die meisten Juristen auf dem Recht liegen, und da wird es vielfach um die gleichen Fragen gehen wie auch bisher. Deshalb ist es wichtig, gerade hier, wo die Kernkompetenzen der Juristen liegen, weiterhin eine Ausbildung auf hohem Niveau zu gewährleisten. Für uns als Autoren und für Sie als Leser.