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Editorial JA 5/2018

Prof. Dr. Reinhard Merkel, Hamburg

Sterbensnot und Menschenwürde: ein wegweisendes Urteil des BVerwG


Am 2. März 2017 entschied der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts, in Ausnahmefällen extremer Lebens- und Sterbensnot eines Patienten könne das Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArM) verpflichtet sein, den Erwerb einer hinreichenden Menge des Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital (NPB) zum Zweck eines Suizids des Leidenden zu erlauben (zu der Entscheidung Muckel JA 2017, 794). Eine solche extreme Notlage hielt der Senat im konkreten Fall für möglich: dem einer Frau, die nach einem Unfall vom Hals an abwärts vollständig gelähmt war, künstlich beatmet werden musste, an schwersten, irreversiblen Beeinträchtigungen litt, die eine ständige medizinische Pflege erforderlich machten und mit dauernden Schmerzen verbunden waren. 

Das Verfahren hatte eine justizielle Vorgeschichte, nämlich einen vorgängigen Instanzenzug, der für die deutsche Verwaltungsjustiz kein  Ruhmesblatt markiert. Im März 2005 hatte sich die Betroffene, die Ehefrau des späteren Klägers, in der Schweiz mit fremder Hilfe das Leben genommen. Zuvor war ihr die beantragte Erlaubnis zum Erwerb von NPB zur Selbsttötung vom BfArM verweigert worden. Im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 I 4 VwGO) begehrte der Witwer die Feststellung, der ablehnende Bescheid sei rechtswidrig und das BfArM zur Erlaubniserteilung verpflichtet gewesen. Die Klage wurde vom VG als unzulässig abgewiesen. Der Kläger sei nicht klagebefugt. Die Verweigerung der Genehmigung seitens des BfArM habe allein seine Ehefrau betroffen; seine eigenen Rechte aus Art. 6 I GG oder aus Art. 8 EMRK (Schutz des Privatund Familienlebens) seien nicht berührt. Das OVG unterstrich dieses Argument und verwarf den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung. Dessen Verfassungsbeschwerde wurde vom BVerfG per Kammerbeschluss des 1. Senats mit ähnlichen Erwägungen nicht zur Entscheidung angenommen. 

Diese Verweigerung jeder sachlichen Befassung mit dem tragischen Geschehen war ein befremdliches Zeichen formalistischer Indolenz. So sah das auch der anschließend angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Das Recht auf Schutz des Familienlebens nach Art. 8 EMRK, das ein Recht auf freiverantwortlichen Suizid einschließe, gewährleiste Schutzansprüche auch für Familienmitglieder eines Suizidenten, wenn diese mit dem unmittelbar Betroffenen in enger persönlicher Beziehung stünden und daher von den Gründen seines Suizidwunsches in ihrem eigenen Wohl und Weh als Angehörige substantiell betroffen seien. Beides stehe im Fall des Klägers außer Zweifel. Deshalb komme eine Verletzung seines eigenen Rechts aus Art. 8 EMRK durch die Verweigerung des NPB für seine Ehefrau sehr wohl in  Betracht. In der Sache habe darüber nicht der EGMR, sondern die deutsche Verwaltungsjustiz zu befinden. Doch verletze deren apodiktische Weigerung, sich mit dem Gegenstand der Klage auch nur zu befassen, den Kläger in seinen verfahrensrechtlichen Garantien aus Art. 8 EMRK. Sie schlössen einen Anspruch auf gerichtliche Prüfung ein.

In dem danach per Restitutionsklage (§ 153 I VwGO iVm § 580 Nr. 8 ZPO) eröffneten zweiten Instanzenzug scheiterte der Kläger zunächst erneut. VG und OVG wiesen die Klage nun als zwar zulässig, aber unbegründet ab. Die Entscheidung des BfArM, der Ehefrau des Klägers die Erlaubnis zum Erwerb einer suizidtauglichen Menge NPB zu verweigern, sei rechtmäßig gewesen und habe daher auch eigene familiäre Rechte des Klägers nicht verletzt. Der 3. Senat des BVerwG hob beide Urteile auf und erklärte den ablehnenden Bescheid des BfArM für rechtswidrig. Zwar sei zwölf Jahre nach dem Suizid der Ehefrau des Klägers nicht mehr zu klären, obihr tatsächlich ein Anspruch auf Genehmigung einer tödlichen Menge an NPB zugestanden habe. Möglich sei das aber jedenfalls. Zwar gelte nach § 5 I Nr. 6 BtMG für solche Genehmigungen ein grundsätzliches Verbot. Doch hätte die außergewöhnliche Notlage der Frau als Grund einer möglichen Ausnahme geprüft werden müssen. Denn ihre Autonomie wie ihre Menschenwürde garantierten ihr, die Grenzen des Erträglichen eines extrem leidvollen Lebens und daher auch die Grenze dieses Lebens selbst nach eigenem Maß zu bestimmen. Die Genehmigung zum Erwerb des NPB mit dem Argument zu verweigern, sie komme in keinem denkbaren Fall in Betracht, sei daher rechtswidrig gewesen.

Dem Urteil antwortete ein lärmendes Echo der Empörung aus Politik und Medien. Erstens, so hieß es, statuiere das BVerwG nichts Geringeres als die Möglichkeit einer Pflicht zur staatlichen Unterstützung für die Selbsttötung eines Menschen. Das widerspreche Grundwerten der Verfassung. Und zweitens sprenge die Auslegung des einschlägigen einfachen Rechts durch das Gericht die Grenzen von Sinn und Wortlaut des § 5 I Nr. 6 BtMG. Er untersage eine Genehmigung, wenn die beabsichtigte Verwendung des Betäubungsmittels mit dem Gesetzeszweck, »die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen«, nicht vereinbar sei. Ein Mittel zur Tötung eines Menschen diene niemals der »medizinischen Versorgung«; es laufe deren Zwecken frontal zuwider.

Keiner der Einwände überzeugt. Die Pflicht des BfArM, in  tragischen Fällen extremer Not vom grundsätzlichen Verbot des Erwerbs eines Betäubungsmittels zu Suizidzwecken abzusehen, hat mit einer Pflicht zur Suizidhilfe nichts zu schaffen. Das Argument ist so verfehlt wie es die Behauptung wäre, ein verwaltungsgerichtliches Urteil, mit dem eine abgeneigte Gemeinde verpflichtet würde, das Aufstellen eines Infostands der NPD zu genehmigen, verpflichte den Staat, die Ziele der NPD zu unterstützen. Und der zweite Einwand, ein Mittel zu Tötungszwecken könne niemals zur medizinischen Versorgung gehören, wird an anderen Stellen der Rechtsordnung schlagend widerlegt – etwa von § 218a StGB, der den Schwangerschaftsabbruch in die Zuständigkeit der Ärzte, also in die Sphäre der medizinischen Versorgung verweist, oder von § 47a des Arzneimittelgesetzes, der für das Abortivmittel »Mifegyne« eigens einen besonderen Vertriebsweg vorschreibt.

Das BVerwG hat eine rechtlich wie rechtsethisch rundum überzeugende Entscheidung getroffen. In einer Sphäre existentieller Sorge, umstellt von ideologischen Postulaten und einer oft lebensblinden dogmatischen Rabulistik, sichert das Urteil die Minima Moralia einer verfassungsgebotenen Humanität. Der Gesetzgeber möge das bei einer allfälligen Neuregelung des BtMG bedenken und es nicht, wie falscher Rat ihm nahelegt, zum Schaden aller zurücknehmen.

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