Editorial JA 1/2018
Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, Regensburg/Straubing
Strafrechtliche Gesetzesflut – Ein kritischer Rückblick
Die 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags – vor allem aber das vergangene Jahr – brachte eine Flut neuer und komplizierter Strafvorschriften nicht nur im StGB und der StPO, sondern auch in den strafrechtlichen Nebengesetzen (Überblick im beck-blog unter https://community.beck.de/2017/09/13/strafrechtliche-gesetzesflut-wer-soll-da-noch-den-ueberblick-behalten). Die tagesaktuelle Medienberichterstattung rief den Gesetzgeber immer wieder rasch auf den Plan. So kann es nicht verwundern, dass den zahlreichen Reformpaketen kein erkennbares rechtspolitisches Grundkonzept, geschweige denn wissenschaftlich fundierte Aussagen zugrunde lagen. Die Wissenschaft steht solchen Tendenzen seit jeher kritisch gegenüber, zumal wenn das Strafrecht, wie insbesondere bei der Reform der Sexualdelikte, als »politische Allzweckwaffe« zur Beruhigung der Medienöffentlichkeit dienen soll.
Ausgelöst durch die Übergriffe in der Sylvesternacht 2015/2016 vor dem Kölner Hauptbahnhof und das Verfahren gegen Gina Lohfink wurde rechtspolitisch in breiter Öffentlichkeit viel und heftig über die dann umgesetzte Verschärfung des Sexualstrafrechts in §§ 177, 184i, 184j StGB diskutiert. Im Gegensatz zur alten Rechtslage werden vom Gesetz nun sexuelle Handlungen gegen den Willen des Opfers auch dann erfasst, wenn der Täter das Opfer weder nötigte, Gewalt oder eine Drohung anwendete noch unter dem Druck einer schutzlosen Lage handelte. In den früher bestehenden Lücken sahen einige einen Verstoß gegen Art. 36 I der Istanbul-Konvention, wonach die Vertragspartner nicht einverständliche exuelle Handlungen generell mit Strafe bewehren sollen. Dem Schließen der Lücken wurde entgegengehalten, Lücken seien kein Mangel, sondern dem fragmentarischen Charakter des Strafrechts immanent.
Mit der in § 217 StGB neu geregelten Sterbehilfe sehen Kritiker das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG verletzt, weil in zentralen Tatbestandsbereichen die Strafvorschrift unklar sei. Aus Sicht des Sterbewilligen, der häufig schwerst krank und verzweifelt sei, wird
eingewandt, dass das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidförderung einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Sterbewilligen darstelle. Aus Sicht der von der Strafbestimmung betroffenen Ärzte wird gerügt, dass die Regelung auch einen Verstoß gegen Art. 12 GG begründen könnte (näher BeckOK StGB/Oğlakcıoğlu, 36. Ed. 1.11.2017, § 217 Rn. 11 ff.).
Seit 22.7.2017 ist der Wohnungseinbruchdiebstahl nach § 244 I Nr. 1, IV StGB mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren belegt. Hinter der drastischen Anhebung des Strafrahmens steht die gesetzgeberische Prämisse, damit würden erhebliche präventive Effekte erzielt. Dem wiederum steht die kriminologische Erkenntnis entgegen, dass bei Straftaten weniger das drohende Übel im Falle einer Entdeckung als vielmehr das subjektiv eingeschätzte Entdeckungsrisiko den viel entscheidenderen Abwägungsgesichtspunkt bilde. Die Strafhöhe als solche stellt jedenfalls keinen nennenswerten Präventionsfaktor dar.
Mit Wirkung vom 19.4.2017 finden sich mit dem Sportwettbetrug, § 265c StGB, und der Manipulation von berufsportlichen Wettbewerben, § 265d StGB, zwei neue Tatbestände im StGB, die die Gefahren für »die Integrität des Sports« und »das Vermögen anderer« abwehren sollen. Trotz dieser grundsätzlich zu begrüßenden gesetzgeberischen Intention verneinte eine sehr eingehende Grundsatzkritik von Literatur und Verbänden die Legitimität und Erforderlichkeit der getroffenen gesetzlichen Regelung (näher BeckOK StGB/Bittmann/Nuzinger/Rübenstahl, 36. Ed. 1.11.2017, § 265c Rn. 6 ff.).
Die alte Rechtslage erfasste das vergleichsweise junge Kriminalitätsphänomen illegaler Kraftfahrzeugrennen wegen der fehlenden tatbestandlichen Kopplung von Rennen und fahrlässig bewirkter Tötung nur unzureichend, auch war die bloße Teilnahme an einem illegalen Kraftfahrzeugrennen straflos. Zwischen den in Betracht kommenden Rechtsfolgen – bei fahrlässiger Tötung maximal fünf Jahre, bei vorsätzlicher Tötung lebenslange Freiheitsstrafe – klaffte eine große Lücke. Hinzu kommt: Bis heute besteht keine Einigkeit über die Abgrenzungskriterien zwischen (bedingtem) Vorsatz und Fahrlässigkeit. Angesichts der Zunahme an Todesfällen und Verletzten aufgrund illegaler Fahrzeugrennen ist der neue § 315d StGB grundsätzlich zu begrüßen (umfangreich kommentiert in BeckOK StGB/Kulhanek, 36. Ed. 1.11.2017, § 315d).
Die für die Praxis wohl bedeutsamste Änderung erfolgte durch das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung zum 1.7.2017. Das bisherige Recht soll damit ab sofort vereinfacht, aus Sicht des Gesetzgebers unvertretbare Lücken geschlossen und insbesondere der Zugriff auf Drittvermögen ermöglicht sowie der Nachweis der deliktischen Herkunft eines Vermögens erleichtert werden. Das Gesetz spricht nunmehr einheitlich von »Einziehung« (also: den Verfall gibt es nicht mehr). Durch die Änderung der §§ 73 ff. StGB, die Aufhebung zahlreicher Bestimmungen sowie dieEinfügung von Art. 316h EGStGB wurde das gesamte Instrument der Einziehung grundlegend neu aufgestellt. In der Praxis findet das neue Recht der Vermögensabschöpfung aber bislang wenig Zustimmung. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen insbesondere gegen die erweiterte Einziehung von Taterträgen bei Tätern und Teilnehmern nach § 73a StGB, die eine Einziehungsanordnung bereits dann ermöglicht, wenn die Einziehungsobjekte aus Taten stammen, die nicht konkret abgeurteilt wurden (näher zur Kritik BeckOK StGB/Heuchemer, 36. Ed. 1.11.2017, § 73 Rn. 1.6 ff., § 73a Rn. 2 ff.).
Neben diese aus Sicht der Ausbildung wichtigsten Änderungen im materiellen Strafrecht treten zahlreiche strafprozessuale Änderungen, die fast durchweg zu begrüßen sind, weil damit Defizite ausgeräumt werden und den internationalen Anforderungen Rechnung getragen wird.
Es kam wie es kommen musste: Bei der Vielzahl der Gesetzesvorhaben verlor selbst der Gesetzgeber hin und wieder den Überblick, ein Gesetzesvorhaben überholte das andere, sodass zB Verweise nicht stimmten oder der Gesetzgeber etwas anordnete, was deshalb nicht mehr umgesetzt werden konnte, weil der Bezug schon gestrichen war (Beispiel: https://community.beck.de/2017/09/28/strafrechtliche-gesetzesflut-zu-guter-letzt-hat-dann-auch-der-gesetzgeber-den-ueberblick-verloren). Wen es interessiert: Gleichsam eine Fehlerliste finden Sie in der »Berichtigung des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens« vom 1.11.2017 (BGBl. 2017 I 3630) durch das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Damit stellt sich für mich die Frage, ob eine solche Berichtigung verfassungsrechtlich denn ohne den Gesetzgeber so ohne Weiteres geht.