Editorial JA 9/2017
Prof. Dr. Christian Wolf, Hannover
Legal Tech
Gäbe es das juristische (Un-)Wort des Jahres, müsste man nicht lange überlegen. Bereits zur Mitte des Jahres war klar: Das juristische Wort des Jahres ist Legal Tech. Wusste 2015 noch kaum jemand mit dem Begriff Legal Tech etwas anzufangen, kann man sich 2017 vor Legal-Tech-Konferenzen, Blogs und Hackathons kaum mehr retten. Unter dem schillernden Begriff Legal Tech verbergen sich ganz unterschiedliche Entwicklungen. So firmieren als Legal Tech neue Vertriebsformen von Rechtsdienstleistungen im Internet, wie 123recht.net, genauso wie verschiedene Formen der automatisierten Rechtsberatung, für die zB flightrigt.de oder smartlaw.de stehen. Zu Legal Tech zählt man auch Software-Programme (zB EVANA), die Dokumente, wie zB E-Mails, nach bestimmten rechtlichen Gesichtspunkten auswerten und so die Sachverhaltsaufbereitung deutlich erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen.
Die Vorhersage Richard Susskinds, Law Professor in England und Schottland, IT wird den Anwaltsmarkt grundlegend verändern, beginnt Wirklichkeit zu werden. In der Anwaltschaft wächst die Sorge vor der disruptiven (noch so ein Modewort) Wirkung der IT. Warum soll man als Mandant eine Heerschar von Associates bezahlen, um die Terabits an E-Mails zu lesen, wenn dies eine Software schneller und effizienter erledigen kann?
Für Studierende weitaus vertrautere Erscheinungsformen von Legal Tech dürften die diversen Datenbanken von beck-online über juris bis zu Google Books sein. Aber auch hier gibt es neue Entwicklungen. So visualisiert Ravel zB die Bedeutung einzelner Entscheidungen, indem sie darstellt, wie sich die Entscheidungen wechselseitig zitieren. In der Logik des Systems ist diejenige Entscheidung am bedeutendsten, die am häufigsten als Referenzquelle dient.
Bislang findet Legal Tech – von einigen Ausnahmen abgesehen – außerhalb der Universitäten statt. Treiber sind Anwälte, Startups und Verlage. Dies sollte sich ändern, denn die Entwicklung wirft eine ganze Reihe von Fragen auf, die der Reflexion bedürfen.
Wir alle benutzen mehr oder weniger unkritisch Datenbanken. Wir alle nehmen damit nur noch zur Kenntnis, was uns der jeweilige Algorithmus der Datenbank nach oben spült. Nach welchem Prinzip funktionieren aber diese Algorithmen? Wer entscheidet, wie der Algorithmus Wichtiges vom Unwichtigen trennt? Ist dies nur Arbeitserleichterung oder nicht auch eine Bevormundung durch den Algorithmus der jeweiligen Datenbank?
Noch mehr Fragen wirft die automatisierte Rechtsdurchsetzung auf. Sicherlich können Algorithmen mechanisch ein vergebenes Prüfungsschema abarbeiten, also auf der Basis der hM eine vorgezeichnete Standardlösung errechnen. Können sie aber auch neu aufgeworfene juristische Probleme lösen? Ein Beispiel hierzu: Jüngst hat der BGH entschieden, dass Gebühren für zugesandte, aber nicht für eine Überweisung genutzte smsTAN nicht durch AGB erhoben werden dürfen. Hierin läge eine unzulässige Abweichung von § 675f IV 1 BGB (BGH Urt. v. 25.7. 2017 – XI ZR 260/15). Nachdem der BGH die Entscheidungen so getroffen hat, ist sicherlich ein Computerprogramm denkbar, welches den Rückforderungsanspruch der zu viel gezahlten TAN-Gebühren automatisiert berechnet. Um die vom BGH entschiedene Frage zu beantworten, ob es sich bei der in den AGB geregelten Gebühr um eine nicht der AGB-Kontrolle unterliegende Gegenleistungsabrede oder eine kontrollfähige Preisnebenabrede handelt, ist jedoch eine juristische Wertung erforderlich. In der Sprache der Logik: Nicht nur Aussagelogik und Syllogismus, sondern Prädikatenlogik sind erforderlich.
Sicherlich: Legal Tech wird in weite Bereiche der Juristerei Einzug halten. Umso notwendiger ist es, die Möglichkeiten und Grenzen von Legal Tech zu erkennen. Wie weit die Entwicklung genau gehen wird, ist jetzt noch nicht absehbar. Manches aber klingt nach einer Renaissance der Subsumtionsautomaten des 19. Jahrhunderts (Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat, 2008). Rechtswissenschaft lebt davon, dass sich rechtswissenschaftliche Wertungsfragen nicht mit mathematischer Gewissheit errechnen lassen, mit anderen Worten es häufig keine eindeutigen Antworten gibt. Dies auszuhalten ist eine Grundvoraussetzung für einen guten Juristen.
Eines aber ist sicher: Mehr denn je wird man mit dem bloßen Erlernen und mechanischen Abarbeiten von Schemata nicht mehr reüssieren können. »Thinking outside the box« ist gefragt.