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Editorial JA 12/2016

​ Prof. Dr. Christian Wolf, Hannover
    

Weihnachtsbuchempfehlung der JA 2016


»Denn ein Jurist / der nicht mehr denn ein Jurist ist / ist ein arm Ding.«
    Martin Luther


Ein besseres Leitmotiv für die Weihnachtsbuchempfehlung der JA gibt es nicht, und in diesem Jahr allemal. Auch wenn wir am 31. Oktober mehr an die letzte Halloween-Party denken als an den Reformationstag: 2017 jährt es sich zum fünfhundertsten Mal, dass Martin Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg anschlug. Die Thesen waren als Disputation an der Universität Wittenberg gedacht. Sie markieren den Beginn der Reformation, welche ein wichtiger Impulsgeber für die westliche Moderne wurde. Die Volkssprache Deutsch verdanken wir der Bibelübersetzung Luthers genauso wie die Reformation Rationalität und Individualität beförderte. Thomas Kaufmann, Erlöste und Verdammte, Eine Geschichte der Reformation, C.H.Beck, 2016, 508 Seiten, 26,95 EUR, ist daher auch die erste Buchempfehlung am Vorabend des Reformationsjahres. Das Buch zeichnet das historische Umfeld der Reformation genauso nach, wie es die Ideen der Reformation und deren Auswirkungen bis in die Gegenwart beleuchtet.

Protestantisches Gedankengut spiegelt sich auch in der Entwicklung unserer Rechtsordnung wider, wie der Betonung der Rechtssetzung durch den Staat oder der Leistungsethik mit dem Prinzip der Vertragsfreiheit. Allgemein gesprochen bewegt sich Recht nicht in einem geschichts- und ideenlosen Raum, sondern ist tief verwurzelt in der (Rechts-)Kultur. Die zweite Buchempfehlung lautet daher Peter Mankowski, Rechtskultur, Mohr Siebeck, 2016, 547 Seiten, 99,00 EUR. Peter Mankowski hat ein großartiges Buch über die unterschiedlichen Kulturen und Prägungen des Rechts geschrieben. Um nur zwei Beispiele aus dem material- und anschauungsreichen Buch zu wählen: die Beschreibung des ökonomisch getriebenen Vokabulars des Kapitalmarkrechts, welches eine Immunisierung dieser Rechtsentwicklung durch outsider bewirkt, also durch all diejenigen Personen, die nicht zum inner circle dieses Rechtsgebietes gehören (S. 85 ff.). Sehr erhellend auch die Beschreibung des Gerichtswesens und die Prägung, welche dieses zB durch die unterschiedliche Sozialisation der Richter erhält.

Das Recht wird immer ganz entscheidend auch von den handelnden Personen geprägt. Seit Norbert Freis Buch, Vergangenheitspolitik, 1996, wissen wir, dass die Adenauersche Vergangenheitspolitik einerseits von der Integration der alten, zum Teil hochbelasteten NS-Funktionseliten geprägt war und andererseits von der vergangenheitspolitischen Grenzmarkierung. Ein offenes Bekenntnis zur nationalsozialistischen Ideologie
und zum Antisemitismus wurde unterbunden. Wie sich die alten Funktionseliten in die Bundesrepublik integrierten und wie sie dort wirkten, ist allerdings immer noch nicht für alle Bereiche untersucht. Jetzt haben Manfred Görtemaker und Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg − das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, C.H.Beck, 2016, 588 Seiten, 29,85 EUR, vorgelegt. Das Bundesjustizministerium hat seine eigene Vergangenheit durch eine Forschergruppe untersuchen lassen, die jetzt das Ergebnis präsentierte. Lesenswert! Das Werk zeigt nicht nur auf die ehemalige NS-Elite, die ihre Karriere im BMJ und am BGH fortsetzen konnte, sondern auch wie die Aufarbeitung der Vergangenheit behindert wurde. So geht »Die Akte Rosenburg«, der Titel spielt auf den ersten Sitz des Justizministeriums in Bonn an, zB der Frage nach, wie die Verjährung der Beihilfe zum Mord durch das EGOWiG von 1968 für alle täterbezogenen Mordmerkmale »aus Versehen« auf 15 Jahre verkürzt werden konnte.

Das vierte Buch der diesjährigen Weihnachtsbuchempfehlung ist ein absolutes must im Jahr des Brexit! Dieter Grimm, Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, C.H.Beck, 2016, 288 Seiten, 24,95 EUR. Dieter Grimm zeichnet die Konstruktionsschwäche der Europäischen Verträge, die Über-Konstitutionalisierung, deutlich nach. Im Verfassungsmodus der Verträge werden politische Fragen entschieden, die damit zugleich dem politischen Diskurs entzogen werden. Die Grundfreiheiten des EU-Rechts wurden vom EuGH nicht nur antiprotektionistisch, sondern antiregulatorisch verstanden. Viele nationale Regelungen können so gegen zB die Grundfreiheit des freien Warenverkehrs verstoßen. Dieser negativen Integration (Deregulierung auf nationaler Ebene), die die Kommission und der EuGH vorantreiben können, steht die viel schwierigere, positive Integration, also die Schaffung neuer Regelungen auf EU-Ebene, gegenüber. Dies führt zu einer Asymmetrie von negativer und positiver Integration. Europäische Politikverdrossenheit rührt auch daher, dass weitreichende politische Folgen nicht mehr politisch entschieden werden, sondern im konstitutionellen Modus.

Wie verteidigt man einen Angeklagten? Und geht es im Strafprozess um nichts anderes als die Wahrheit? Welche Wahrheit ist dies? Warum darf ein Strafverteidiger nicht lügen? Wie steht Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafprozess zusammen, wieviel Wahrheit wollen wir überhaupt haben? Über all diese Fragen hat Klaus Volk, Die Wahrheit vor Gericht: Wie sie gefunden und geschunden, erkämpft und erkauft wird, C. Bertelsmann, 2016, 352 Seiten, 19,99 EUR, ein Buch geschrieben. Klaus Volk ist Emeritus für Straf- und Strafprozessrecht in München und einer der profiliertesten Strafverteidiger. Sein neuestes Buch ist nicht akademisch im eigentlichen Sinne (es kommt ohne Fußnoten aus!), dafür scharfsinnig, unterhaltend, ironisch und klug. Wer nicht nur die StPO kennenlernen will, sondern wie sie im Strafprozess wirkt und funktioniert, erhält einen vertieften Einblick.

Ganz zum Schluss eine Frage, ein Buch, und ein Film:

Legaltech ist in! In welchem Umfang werden Computer mit ihren Algorithmen juristische Entscheidungen übernehmen? Schon bald wird sich die Frage stellen, ob wir autonomen Fahrzeugen die Entscheidung überlassen können, ob das Auto einen Radfahrer überfährt (die einzige Ausweichmöglichkeit), wenn plötzlich ein Kind auf die Straße rennt, oder das Kind. Wie schwierig in einem solchen Dilemma die zutreffende juristische Entscheidung ist, verdeutlicht der Film »Terror − Ihr Urteil« von Lars Kraume nach einer Vorlage von Ferdinand von Schirach (jetzt im Kino). Ein Passagierflugzeug wird von Terroristen entführt und steuert auf ein Fußballstadion mit 70.000 Zuschauern zu. Der Pilot eines Bundeswehr-Kampfjets entschließt sich das Passagierflugzeug abzuschießen – Mord in 164 Fällen?

Warum wir die Entscheidung über solche Fragen nicht Algorithmen überlassen können, das Argument nicht berechenbar ist, legt Julian
Nida-Rümelin
in seinem neusten Buch, Humanistische Reflexionen, Suhrkamp, 2016, 474 Seiten, 22,00 EUR, erneut dar. Nur wenn wir uns nicht als reine Rechtstechniker begreifen, sondern uns auch auf historische, philosophische, soziologische und ökonomische Grundlagen des Rechts einlassen, also mehr sein wollen als ein Jurist, sind wir kein arm Ding! Und dies im doppelten Sinne geistig und finanziell, weil uns sonst Legaltech überflüssig macht.

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