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Editorial JA 1/2016

Prof. Dr. Christoph Safferling, LL.M. (LSE), Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Völkerstrafrecht 70 Jahre nach Nürnberg


Am 20.11.1945 begann im Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes der Prozess gegen 22 deutsche Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärtribunal unter Leitung des englischen Lordrichters Sir Geoffrey Lawrence. Es war das erste Mal, dass in der Geschichte der Menschheit wegen internationaler Verbrechen vor einem internationalen Strafgericht verhandelt wurde. Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden den größten, noch lebenden Nazis vorgeworfen. Angeführt von Hermann Göring bekannte sich keiner von ihnen schuldig. Nach einer umfangreichen Beweisaufnahme mit 240 Zeugen und 300.000 eidesstattlichen Versicherungen wurden am 30.9. und 1.10.1946 von den britischen, amerikanischen, französischen und sowjetischen Richtern zwölf Todesstrafen ausgesprochen, sieben Personen zu zeitigen Freiheitsstrafen verurteilt und drei Angeklagte freigesprochen. Auch wenn in der unmittelbaren Folge weltweit tausende Personen strafrechtlich wegen Tätigkeiten in Einsatzgruppen, in Konzentrationslagern, wegen medizinischer Versuche an lebenden Menschen, Mitwirkung an den Zwangsarbeiterprogrammen oder Euthanasie, wegen Denunziation und Übergriffe gegen Juden verfolgt und verurteilt wurden, blieb der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess doch der einzige wirklich internationale Prozess. Politisch war während des sog. Kalten Krieges kein Interesse mehr an der Verfolgung von Kriegsverbrechen, auch wenn im Koreakrieg, im Vietnamkrieg, in den Befreiungskriegen gegen Kolonialmächte, in Kambodscha, Afghanistan, in lateinamerikanischen Diktaturen an Gelegenheit und Notwendigkeit kein Mangel war.

Gleichwohl blieb die Idee einer Strafverfolgung auf internationaler Ebene gleich einem glimmenden Docht in der Zivilgesellschaft immer präsent. Der Wunsch des US-amerikanischen Chefanklägers und Supreme Court Justice Robert H. Jackson, den er in seiner Eröffnungsrede zum Ausdruck brachte, konnte nicht in Vergessenheit geraten: »Wir müssen an unsere Aufgabe mit so viel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, dass dieser Prozess einmal der Nachwelt als die Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge.«

Der glimmende Docht wurde voller Hoffnung wieder angefacht, als nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes die systematische Begehung von Kriegsverbrechen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens ruchbar wurde. Im Mai 1993 wurde deshalb inmitten des Bosnienkrieges in Den Haag vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien eingerichtet. Im November 1994 folgte in Reaktion auf den grausamen Völkermord in Ruanda das Ruandatribunal in Arusha und Den Haag. Der Wille der Mehrheit der Staaten diese neuerlichen strafrechtlichen Gehversuche des Völkerrechts auf permanente institutionelle Füße zu stellen, zeigte sich dann im Juli 1998 in der Verabschiedung des sog. Römischen Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof, das schon kurze Zeit später im Jahr 2002 in Kraft trat. Mit aktuell 123 Mitgliedstaaten operiert dieser Gerichtshof noch nicht auf einem globalen Level, aber er erhebt den Anspruch, dass internationale Verbrechen nicht mehr ungesühnt bleiben. Er steht damit in der Tradition des Nürnberger Prinzips Nr. I: Any person who commits an act which constitutes a crime under international law is responsible therefore and liable to punishment.

Das menschliche Sehnen nach Gerechtigkeit ist gleichwohl noch immer nicht in Erfüllung gegangen. Die Prozesse erweisen sich als hochkomplex und langwierig. Mehrere Jahre werden benötigt, um eine rechtskräftige Verurteilung eines einzigen Angeklagten zu erreichen, während in Nürnberg zehn Monate ausreichten, um den Prozess gegen 22 Angeklagte zu beenden. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die totale Kapitulation des deutschen Reichs und die Besetzung durch die alliierten Siegermächte ganz andere Voraussetzungen für die Beweislage mit sich brachten als das in einem andauernden kriegerischen Konflikt der Fall ist. Natürlich sind auch die menschenrechtlichen Anforderungen an einen Strafprozess heute andere als vor 70 Jahren in Nürnberg, wo es etwa noch kein Rechtsmittelverfahren gab. Viele der Probleme des Internationalen Strafgerichtshofs sind aber auch hausgemacht, wie etwa die rudimentäre Verfahrensordnung und der teilweise unprofessionelle Umgang damit. Diese müssen schnellstmöglich abgestellt werden.

Allerdings besteht auch die Gefahr, die Wirkmacht des Internationalen Strafgerichtshofs zu überschätzen. Ein Strafverfahren vermag keinen kriegerischen Konflikt zu beenden und eine zerrissene und verletzte Gesellschaft zu heilen. Strafrecht ist immer, national wie international, nur ein kleiner Beitrag zum Frieden und letztlich ein hilfloser Versuch, begangenes Unrecht zu negieren. Aber der Anspruch, die menschliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit zu stillen, muss bleiben, nicht zuletzt wegen der vielen tausenden unbekannten Opfer.

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