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Editorial JA 1/2015

Prof. Dr. Roland Schimmel, Frankfurt am Main

Starke Worte – über überschießende Wertungen


»Vorsatz? VORSATZ? Die spinnen ja wohl. Dann gehen wir eben in Berufung! Und zwar sofort!«

Aber der Reihe nach: Kaum eine Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten im Allgemeinen oder gar eine Anleitung zum juristischen Arbeiten im Besonderen, die nicht an den Leser appellierte, er solle die Worte »absolut«, »total«, »völlig«, »extrem«, »krass« usw. dringend meiden. Warum eigentlich? Wertungen zu treffen und zu äußern ist des Juristen tägliches Geschäft. Juristen entscheiden ständig, was erlaubt und verboten, zulässig und unzulässig, wirksam und unwirksam ist. Wo das Gesetz es erfordert, lauten diese Wertungen auch »strafbar«, »unlauter«, »sittenwidrig«, »unverhältnismäßig«, »verwerflich«, »vorsätzlich«, »unseriös«, »wucherisch«, »mit Täuschungsabsicht« usw. Zumal bei subjektiven Tatbestandsmerkmalen klingt dann fast von selbst ein moralischer Vorwurf an.

Der Adressat indes hört diesen Vorwurf nicht gern, gerade wenn er glaubte, sein Handeln bewege sich auf dem Gebiet des Erlaubten und Gebilligten, sei es auch vielleicht am Rand. Wo es – wie oft im Recht – um die Missbilligung menschlicher oder behördlicher Verhaltensweisen, Argumentationen und Entscheidungen geht, muss man solche Wertungen aber aushalten, als Kritisierter und als Kritisierender.

Problematisch wird die Wertung, wenn sie als überschießende Wertung auftaucht. Niemand ist gezwungen, statt »unverhältnismäßig« zu schreiben »außerhalb jeder Relation«. Und es ist mehr als nur eine andere Nuance, ob man einen abzulehnenden Sachverständigen als »möglicherweise interessengebunden« oder als »korrupt« oder »käuflich« bezeichnet. Solche unnötig starken Wertungen schießen meist gleich mehrfach über das Ziel hinaus.

Gehäuft bringen sie einen unschönen sprachlichen Stil hervor, der leicht ins Marktschreierische kippt. Im nächsten Schritt ersetzt die lautstarke Behauptung dann ganz die Begründung. Korrektoren juristischer Prüfungsarbeiten können ein Lied davon singen.

Sie geraten zudem kommunikativ ungeschickt, weil sie Widerspruchherausfordern, der in der Sache selbst gar nicht nötig wäre, etwa wenn über »sittenwidrig« Konsens zu erzielen wäre, während »evident in hohem Maße sittenwidrig« kaum hinzunehmen ist. Die im akademischen Diskurs und in der Korrekturpraxis immer wieder anzutreffende Bezeichnung anderer Ansichten als »absurd«, »nicht vertretbar«, »abwegig« liegt auf einer ähnlichen Linie. Wer so stark wertet, verzichtet auf die Möglichkeit, den anderen zu überzeugen. Das mag gehen – mit Autorität. Die erlangt man aber nicht, indem man sie sich selbst zuschrei(b)t.

Vielleicht das Wichtigste: Überschießende Wertungen nähren den Zweifel, ob Sie »sine ira et studio« an das zu beurteilende Problem herangegangen sind. Professionell zurückhaltend formulierende Juristen lassen daher ihren gelegentlichen heiligen Zorn allenfalls zwischen den Zeilen hervorblitzen.

Um den eigenen Sprachgebrauch auf die Probe zu stellen, mag man sich fragen: Welche Wertung und welche Formulierung würde man sich als Prozesspartei von einem Richter noch gefallen lassen, ohne ihn für voreingenommen und befangen zu halten? Übertreibung schadet nicht nur dem Richter, sondern auch dem Rechtsanwalt. Wer schon Anwaltsschriftsätze gelesen hat, in denen die weitschweifige empörungsaufgeladene Sachverhaltsschilderung jegliche rechtliche Einordnung verdrängt (»Iura novit curia – um die zutreffende rechtliche Bewertung kümmert sich dann schon das Gericht…«), weiß, wie sehr das schiefgehen kann.

Prüfer beobachten nicht selten einen eigenartigen Effekt. Die allfällige Warnung vor zu deutlichen Wertungen lässt – gewiss im Zusammenspiel mit einer Reihe weiterer ähnlich professionell deformierend wirkender Handlungsanleitungen – viele Kandidaten gegen Ende ihres Studiums mit Wertungen äußerst vorsichtig werden. So vorsichtig, dass in Studien- und Abschlussarbeiten zwar beachtliche Leistungen im Deskriptiven zu beobachten sind, wenn etwa eine komplizierte Rechtsentwicklung übersichtlich systematisiert dargestellt wird. Geht es aber im nächsten Schritt um Wertungen – also etwa darum, diese Entwicklung kritisch zu kommentieren, infrage zu stellen, mit anderen Entwicklungen zu vergleichen, Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten, Zukünftiges zu prognostizieren, einen Gesetzgebungs- oder Vertragsgestaltungsvorschlag zu skizzieren oder sogar eine grundsätzliche Gegenposition zu formulieren –, stellt man eine spürbare Zurückhaltung fest. Trotz ausdrücklicher Ermutigung halten sich Studenten hier oft bedeckt, jedenfalls meist: ziemlich kurz. Die daraus entstehenden Phantomschmerzen schlagen teils bis auf die Note durch. Verständlicherweise, denn beim Lesen wartet man geradezu auf die normativen wertenden Überlegungen, mit denen sich der Verfasser einen eigenen Standpunkt erarbeitet, den er zugleich als allgemein akzeptablen vorschlägt.

Ausnahmen bestätigen allerdings die Regel. Manchmal schlägt das Pendel in die andere Richtung. Dann finden sich schon auf der ersten Seite einer Abschlussarbeit ein Dutzend Ausdrücke wie »verantwortungslose Unternehmen«, »machtlose Justiz«, »bestechliche Wissenschaftler«, »skrupellose Experten«, »bedingungslose Abhängigkeit« und »unzählige Opfer«, vorzugsweise ohne Beleg und frei von Begründung. Sofort bereut der Leser, sich noch gestern ein bisschen mehr journalistisch-feuilletonistischen Pepp in der Pflichtlektüre gewünscht zu haben. Grantelnd schreibt er Randbemerkungen wie »Woher weiß man das?«, »Sind Sie sicher?«, »Belege!« und dergleichen. Je mehr sich diese Bemerkungen häufen, desto stärker wachsen die Zweifel, ob die professionelle Sozialisierung des Kandidaten wirklich voll gelungen sei.

Im Herzen des Erstsemesterstudenten pocht – idealerweise – ein Gerechtigkeitsgefühl, das sich zu Beginn des Studiums mit viel »Ich«, wenig argumentativem Gesetzesbezug und nicht zuletzt überschießenden Wertungen (»offensichtlich ungerecht und daher nichtig«) artikuliert; unprofessionell vielleicht, aber sympathisch. Schlimm wäre es, wenn das Studium dieses Gerechtigkeitsgefühl nicht nur in strukturierte Bahnen lenkte und dabei unauffällig in »Judiz« umbenennte, sondern gleich ganz ausschaltete.

Auf den Alltag an der Hochschule heruntergebrochen könnte man fragen: Wo richtet sich der Student ein zwischen individuellem Gerechtigkeitsempfinden und professioneller Distanz im Denken und Sprechen – und wer kümmert sich eigentlich darum? Die Sache fällt zum einen in die Zuständigkeit der Lehrenden, die Studenten sensibilisieren und anleiten sollen – und bestenfalls Vorbilder abgeben. Ebenso gefragt sind aber die Lernenden: Wie in fast allen Fragen der Arbeitshaltung erzieht man sich letzten Endes zu drei Vierteln selbst. Und gegenseitig. Das Vorstehende ist also nicht zuletzt ein Appell, die überschießenden Wertungen auf die Liste der Dinge zu setzen, über die man gelegentlich näher nachdenken muss. So wird die Stilfrage unversehens zur Haltungsfrage.

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