Schweizer Erbrechtsreformen nehmen Unternehmensnachfolgen in den Blick
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Prof. Dr. Marco Staake | Okt 06, 2022
Die Gestaltung von Unternehmensnachfolgen wird in der Praxis häufig durch das Pflichtteilsrecht erschwert. Für das deutsche Erbrecht sind der Kreis der Pflichtteilsberechtigten, die Höhe der Pflichtteilsquoten und die Ausgestaltung des Pflichtteilsanspruchs in den §§ 2303 ff. BGB geregelt. Der Pflichtteilsanspruch ist dabei stets nur auf Geld gerichtet, eine Beteiligung am Nachlass als Erbe ist damit nicht verbunden. Aus diesem Grund kann durch letztwillige Verfügungen (Testament oder Erbvertrag) gesteuert werden, wer in eine Gesellschafterstellung des Erblassers einrücken und die Unternehmensnachfolge antreten soll.
Gleichwohl können Pflichtteilsrechte die gewünschte Nachfolgegestaltung beeinträchtigen, insbes. wenn das Familienunternehmen wertmäßig den größten Teil des Nachlasses ausmacht. Der oder die Erben sind zur Auszahlung der Pflichtteilsberechtigten schließlich auf Liquidität angewiesen. Ist diese nicht vorhanden, ist der Bestand des Unternehmens in Familienhand gefährdet, da etwa Kredite aufgenommen oder das Unternehmen oder Teile hiervon veräußert werden müssen. Es verwundert daher nicht, dass Pflichtteilsverzichtsverträge in der beratenden Praxis eine bedeutende Rolle spielen (dazu Becker/Hendricks RFamU 2022, 23 ff.) und durch Rechtswahlklauseln Ausweichlösungen gesucht werden (dazu BGH RFamU 2022, 424 ff. mAnm Weber – in diesem Heft).
Das Erbrecht der Schweiz verfolgt hinsichtlich der Pflichtteilsrechte einen anderen Ansatz. Der Pflichtteil ist hier ein im Umfang gekürzter Erbteil (sog. Noterbrecht). Das Noterbrecht begrenzt die Testierfreiheit: Wer Nachkommen, Eltern, einen Ehegatten bzw. eingetragenen Partner hinterlässt, kann nur bis zu deren Pflichtteil über sein Vermögen von Todes wegen verfügen (Art. 470 Zivilgesetzbuch – ZGB). Der Umfang des Pflichtteils bestimmt sich dabei nach der familienrechtlichen Stellung des Berechtigten und dem Grad der Verwandtschaft bzw. Schwägerschaft zu den übrigen Erben. Der Pflichtteil beträgt für einen Nachkommen drei Viertel des gesetzlichen Erbanspruchs, für jedes Elternteil die Hälfte und für den überlebenden Ehegatten bzw. eingetragenen Partner ebenfalls die Hälfte (Art. 471 ZGB). Pflichtteilsberechtigte werden nicht ipso iure Miterben, sondern nur wenn sie dies durch Erhebung einer sog. Herabsetzungsklage (Art. 525 ff. ZGB) gerichtlich durchsetzen. Die Klage muss innerhalb eines Jahres ab Kenntnis über die Verletzung des Pflichtteils, spätestens aber zehn Jahre nach Eintritt des Erbfalls geltend gemacht werden. Mit stattgebender Klage erlangt der Berechtigte rückwirkend die Stellung als Miterbe entsprechend seines Noterbrechts.
Das Schweizer Erbrecht lässt also die freie Verfügung nur über den nicht durch Pflichtteile belegten Teil des Nachlasses zu (sog. verfügbare Quote). Pflichtteilsberechtigte werden nicht auf schuldrechtliche Zahlungsansprüche gegen die Erben verwiesen – sie werden selbst Miterbe, wenn sie dies verlangen. Die Gestaltung einer Unternehmensnachfolge wird dadurch erschwert. Der Schweizer Gesetzgeber hat diese Problematik und ihre Gefahren für den Bestand von Familienunternehmen erkannt.
Im Zuge einer bereits beschlossenen Erbrechtsreform werden die Pflichtteile ab dem 1.1.2023 reduziert. Erblasser können daher zukünftig über einen größeren Teil ihres Nachlasses frei verfügen. Der Pflichtteil der Nachkommen wird auf die Hälfte abgesenkt, derjenige der Eltern entfällt ganz. Die erbrechtliche Gestaltung der Unternehmensnachfolge wird dadurch erleichtert. Der Schweizer Bundesrat will es hierbei aber nicht belassen. In einer am 10.6.2022 verabschiedeten Botschaft (BBl. 2022, 1637, abrufbar unter www.fedlex.admin.ch/eli/fga/2022/1637/de) an die Bundesversammlung wird eine weitere Gesetzesreform vorgeschlagen, die die familieninterne Unternehmensnachfolge nochmals erleichtern soll. Erklärtes Ziel ist es, die Zerstückelung und Schließung von KMU in Familienhand zu verhindern. Der Bundesrat verweist dabei auf statistische Erhebungen, wonach jährlich bei rund 16.000 Schweizer Unternehmen eine Nachfolge ansteht und 3.400 von ihnen aufgrund der bestehenden erbrechtlichen Regelungen vor Finanzierungsproblemen stehen.
Nach dem Gesetzesentwurf (BBl. 2022, 1638, abrufbar unter www.fedlex.admin.ch/eli/fga/2022/1638/de) sollen Gerichte künftig einzelnen Erben auf Antrag unter gewissen Voraussetzungen das gesamte Unternehmen zuweisen können. Zwar sollen weiterhin die (Not-)Erbteile der übrigen Erben bei der Zuweisung berücksichtigt, diese also finanziell entschädigt werden. Doch schlägt der Bundesrat die Möglichkeit eines Zahlungsaufschubs vor, um Liquiditätsprobleme bei der Übernahme des Unternehmens zu verhindern.
Darüber hinaus sollen Regeln für den Anrechnungswert des Unternehmens im Rahmen der Erbteilung festgelegt werden. Unter gewissen Voraussetzungen soll dabei eine Anrechnung eines zu Lebzeiten zugewendeten Unternehmens zum Zuwendungszeitpunkt möglich sein. Auf diese Weise soll dem unternehmerischen Risiko des Unternehmensnachfolgers Rechnung getragen werden. Die anderen Erben sollen dadurch geschützt werden, dass in der Unternehmensbewertung zwischen betriebsnotwendigen und nicht betriebsnotwendigen Vermögensteilen unterschieden wird. Der Gesetzesentwurf sieht zudem vor, dass Erben, die vom Erblasser auf den Pflichtteil gesetzt werden, nicht gegen ihren Willen eine Minderheitsbeteiligung erhalten sollen.
Es bleibt abzuwarten, wie das Gesetzgebungsverfahren weitergeht und ob die im Gesetzesentwurf enthalten Vorschläge letztlich auch Gesetz werden. Sinnvoll sind sie allemal. Bereits der Umstand, dass der Schweizer Bundesrat die besondere Situation von Familienunternehmen in den Blick nimmt und grundlegende Änderungen in einem zivilrechtlichen Kerngebiet vorschlägt, ist nachdrücklich zu begrüßen. In deutschen Gesetzgebungsverfahren wird diese Perspektive zu oft vernachlässigt (s. auch Staake RFamU 2022, 249 f.). Die Entwicklungen in der Schweiz machen aber Hoffnung, dass es nicht aussichtslos ist, Familienunternehmen und ihre spezifischen Probleme in den Fokus der Gesetzgebung zu rücken.