Auslegung des Gesellschaftsvertrags bei Familienunternehmen
Von
Prof. Dr. Dr. h. c. Susanne Kalss | Jul 20, 2022
Weder gibt es ein Gesetz für Familiengesellschaften noch ein spezifisches Familienunternehmensrecht. Dies ist auch richtig, sind doch Familienunternehmen nur besondere Typen von Gesellschaften. Eine Eigenheit der rechtlichen Grundlagen von Familienunternehmen liegt darin, dass sie auf den langfristigen Erhalt des Unternehmens in der Hand der Familie ausgerichtet sind, damit die Mitglieder der Familie möglichst lang aus dem Unternehmen ihre finanzielle Lebensgrundlage speisen und daher über eine Generation hinausgehend ihre unternehmerischen Ziele verfolgen können. Damit geht die Bindung des Vermögens einher, die sich in der Verhinderung der Veräußerbarkeit der Anteile an Außenstehende ebenso manifestiert, wie in einer abgewogenen Ausschüttung des Gewinns.
Eine weitere Besonderheit von Familienunternehmen liegt darin, dass ihre Rechtsgrundlage nur ganz selten von einem einzigen Vertrag, dem Gesellschaftsvertrag, getragen wird. Ganz typisch ist es vielmehr, dass ein gesamtes Vertragswerk die rechtliche Basis für das Familienunternehmen bildet. Unterschiedliche Verträge und Rechtsgeschäfte, wie Übertragungserklärungen, Übertragungsangebote, Stillhalteoptionen, Eheverträge, Vorsorgevollmachten, Testamente, Stimmpoolvereinbarungen, gegebenenfalls Familienverfassungen. Pflichtteilsverzichte, Schiedsvereinbarungen sowie Geschäftsordnungen etc. spielen zusammen (Kalss/Probst Familienunternehmen,
2013, Rn. 3/38).
Das Zusammenspiel dieser Elemente des Regelwerks macht die rechtliche Struktur eines Familienunternehmens erst verständlich. Regelungsgehalt und Vertragslogik folgen oft erst aus dem Zusammenwirken der einzelnen Regelungselemente. Daher sind die Gesamtbetrachtung und Zusammenschau dieser unterschiedlichen Regelungsebenen unbedingt notwendig (MHdB GesR IX/Wicke/Berkefeld, 6. Aufl. 2021, § 18 Rn. 4).
Ebenso wie der Gesetzgeber lehnt die Rechtsprechung die besondere Behandlung von Familienunternehmen ab. Ausdrücklich verneint etwa der österreichische Oberste Gerichtshof die Berücksichtigung des Charakters als Familiengesellschaft bei der Auslegung. Nach dem BGH sind materielle Satzungsbestimmungen objektiv auszulegen (BGHZ 123, 347 NJW 1994, 51; BGH NZG 2003, 127). Auch der OGH spricht sich für die objektive Auslegung der materiellen Satzung aus (OGH 6 Ob 231/05 x; OGH 6 Ob 135/12 i; OGH 6 Ob 169/16 w). Subjektive Umstände, Motive und Nebenabreden und insbesondere schuldrechtliche Nebenvereinbarungen (Syndikatsverträge) seien unerheblich (OGH 6 Ob 202/10 i). Ausdrücklich betont der Gerichtshof, dass die objektive Auslegung auch dann maßgeblich sei, wenn die Gesellschafter seit der Gründung dieselben geblieben sind oder nur die Gründer in einem Rechtsstreit involviert sind (OGH 6 Ob 202/10 i; Doralt/Nowotny/Kalss/Gruber öAktG, 3. Aufl. 2021, öAktG § 16 Rn. 20). Während der OGH ebenso wie der BGH früher zumindest bei personalistischen Gesellschaften den wahren Gesellschafterwillen bei Auslegung der gesellschaftsvertraglichen Bestimmungen mitberücksichtigt und damit sachgerechte Lösungen für konkrete Fragen erarbeitet hatte, haben die Gerichtshöfe dies nun ausdrücklich aufgegeben. Der OGH hat die objektive Auslegung jüngst sogar auf eine große Familiengesellschaft in der Rechtsform der KG ausgedehnt (OGH 6 Ob 96/20 s), selbst bei ausdrücklicher Hervorhebung und Normierung der Gesellschaft als Familienunternehmen.
Die Begründung, dass Satzungen öffentlich zugänglich und daher auch für Außenstehende, etwa für Gläubiger, Organmitglieder und Geschäftspartner und auch für künftige Gesellschafter maßgeblich seien, vermag das starre Festhalten an der objektiven Auslegung allerdings nicht zu rechtfertigen. Schließlich geht es bei diesen Fragen um die Ermittlung des Verständnisses der maßgeblichen Rechtsgrundlage ausschließlich für die aktuellen Gesellschafter eines Familienunternehmens.
Damit verbaut sich die Judikatur in vielen Fällen eine sachgerechte Lösung von Rechtsfragen auf der Grundlage der Auslegung der maßgeblichen Regelwerke, insbesondere des Gesellschaftsvertrages. Die Nichtbeachtung, ja geradezu die Missachtung oder bewusste Zurückweisung der Heranziehung von naheliegenden Rechtsdokumenten, wie Testamenten oder Schenkungsverträgen, die unmittelbar mit dem Gesellschaftsvertrag für alle betroffenen Gesellschafter verflochten sind (so etwa OGH 6 Ob 99/11 v), führt zu sinnwidrigen und dem Charakter von Familienunternehmen widersprechenden Ergebnissen.
Dies ist der Judikatur – vielfach – bewusst. Der OGH versucht nun in dieser methodischen Sackgasse mit der verstärkten Heranziehung der Treuepflicht (OGH 6 Ob 155/20 d; OGH 6 Ob 140/20 m) eine Wende zu manövrieren (Kalss GesRZ 2021, 203). Durch die Treuepflicht und die ausdrückliche Anerkennung der Intensivierung der Treuepflicht und die Erweiterung der Einzelpflichten der Treuepflicht aus Stimmpoolverträgen und deren Transfer in die mitgliedschaftliche Treuepflicht kommt die Judikatur vielfach zum gleichen Ergebnis, wie sie es meist auch mit einer sachgerechten und den Gesellschafterwillen für konkrete Situationen berücksichtigenden subjektiven Auslegung erreichen würde. Die Treuepflicht ist einzelfallbezogen und ihre Intensität hängt von unterschiedlichen Umständen ab. Genau dies ist aber auch das Anliegen der subjektiven Auslegung und der Berücksichtigung der besonderen, alle Gesellschafter miteinbeziehenden Umstände. Die Treuepflicht sollte aber nicht nur das Substitut für die sachgerechte Anerkennung des klar in Nebenvereinbarungen zum Ausdruck gebrachten Gesellschafterwillen qua subjektiver Auslegung sein. Vielmehr ist sie eine eigenständige Rechts- und Anspruchsgrundlage für bestimmte, weil darüber hinausreichende Situationen. Jedenfalls soll die Judikatur den vor ca. 15 Jahren eingeschlagenen Weg, auch für personalistische Gesellschaften und insbesondere für Familienunternehmen nur die objektive Auslegung anzuerkennen, dringend überdenken.