Wandel familiärer Leitbilder und Rollenverständnisse in Familienunternehmen
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Prof. Dr. Marco Staake | Feb 28, 2022
Das Recht der Familienunternehmen ist eine komplexe Materie. Es umfasst verschiedene Teilrechtsgebiete, deren teleologische Ausrichtung und Systematik nicht vollständig aufeinander abgestimmt sind. Dieses Spannungsfeld ist zuvörderst rechtlicher Natur. Normkonflikte sind unter Einsatz des rechtsmethodischen Handwerkszeugs rechtsdogmatisch zu lösen. Hinzutritt aber ein weiteres Spannungsfeld, das außerrechtliche Fragen aufwirft, die folglich auch nicht durch eine strikt juristische Herangehensweise beantwortet werden können.
Bei der Beratung von Familienunternehmen sind diese außerrechtlichen Aspekte von zentraler Bedeutung. Juristische Lösungen – etwa bei der Gestaltung der Unternehmensnachfolge – hängen maßgeblich von der Interessenlage der Beteiligten ab. Und diese ist bei Familienunternehmen häufig sehr komplex. Die Frage, welche die im konkreten Fall beste juristische Lösung ist, lässt sich daher nur sinnvoll beantworten, wenn die Interessen der Beteiligten vorab geklärt sind. Zeigt sich dabei, dass Beteiligte widerstreitende Motive haben, muss ein Kompromiss gesucht werden. Bisweilen wird dieser gefunden, während in anderen Fällen das juristische Vorhaben aufgegeben werden muss.
In Familienunternehmen treffen zwei Ebenen aufeinander: Unternehmen einerseits, Familie andererseits. Beide Ebenen haben Schnittmengen, die im Einzelfall größer oder kleiner sein können. Daneben gibt es Bereiche, die sich nicht decken. Dieses Mehrebenensystem kann zu Problemen führen, weil im Unternehmen und in der Familie ganz andere Aspekte eine Rolle spielen. Im Unternehmen geht es um ökonomische Rationalität, also um wirtschaftlich vernünftiges Handeln und Entscheiden. Gefragt wird typischerweise, welche Entscheidungen für das Unternehmen perspektivisch sinnvoll sind, weil sie zu einer nachhaltigen Wertsicherung und bestenfalls auch Wertsteigerung führen werden. In der Familie spielt die Rationalität oft nur eine untergeordnete Rolle. Familiäre Beziehungen sind häufig geprägt von Emotionalität. In der Familie können wir „wir selbst“ sein, unsere Emotionen zum Ausdruck bringen und auch danach handeln. In Familienunternehmen kann daher ein Konflikt zwischen der Rationalität auf Unternehmensebene und der Emotionalität auf Familienebene bestehen.
Zwischen den beiden Ebenen bestehen weitere Spannungsfelder. Unternehmerisches Handeln ist geprägt von Autonomie, wozu bisweilen auch das Eingehen von Wagnissen gehört. Im Unternehmen geht es dabei auch um Innovation und Wandel. Denn wer sich in der Geschäftswelt nicht anpasst, wird auf der – bildlich gesprochen – Strecke bleiben. In der Familie hingegen spielen Loyalität und Abhängigkeiten, das Streben nach Zusammengehörigkeit, Sicherheit und Stabilität eine maßgebende Rolle.
Das Spannungsverhältnis zwischen Unternehmensebene und Familienebene hat sich in den letzten Jahrzehnten durch einen Wandel der familiären Leitbilder und Rollenverständnisse noch verschärft. Traditionell war der Unternehmer zugleich das Oberhaupt der Familie, der Familienpatriarch, dem seine Ehefrau, Kinder und Enkel, aber auch die später geborenen Geschwister häufig sozial untergeordnet waren. Bestehende Konflikte wurden autoritativ „gelöst“. Die Entscheidung des Familienpatriarchen war sowohl für das Unternehmen als auch für die Familie verbindlich. Auf diese Weise konnte zugleich ein Gleichlauf von Unternehmens- und Familieninteresse herbeigeführt werden, freilich auf Kosten der Individualinteressen der übrigen Familienmitglieder. Häufig war die Nachfolgefrage in dieser Konstellation auch vorgezeichnet: Die Rolle des Familienpatriarchen wurde weitergegeben (oft an den erstgeborenen Sohn) und mit ihr zugleich auch die Rolle des Familienunternehmers.
Das von familiärer Subordination geprägte Leitbild mag sich in einigen Familien und Familienunternehmen auch heute noch finden. Es stellt aber – zum Glück! – keineswegs mehr den Regelfall dar. An die Stelle eines bestimmten Rollenverständnisses ist vielfach ein gewandeltes Selbstverständnis getreten. Es gibt mannigfaltige Lebensentwürfe und Rollenbilder, die von Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit geprägt sind. Dies hat zum einen Auswirkungen auf die Konfliktlösung. Gibt es den Familienpatriarchen nicht mehr, der die Interessen von Familie und Unternehmen zum Gleichlauf bringt, müssen hierfür andere Wege gesucht werden. Zum anderen ist auch die Nachfolgeplanung von den gewandelten Lebensmodellen betroffen. Es ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr, dass es einen „geborenen Nachfolger“ gibt, der in die Rolle des Unternehmers hineinwächst (oder hineinwachsen muss).
Das Verhältnis von Unternehmensinteresse und Familieninteresse lässt sich nur im Einzelfall ermitteln. Es ist zudem nicht in Stein gemeißelt, sondern unterliegt Veränderungen, insbesondere in Nachfolgesituationen, da sich hier die unternehmerischen und mit ihnen häufig auch die familiären Strukturen verschieben. Die Nachfolgeplanung ist daher stets ein Anlass, bestimmte Fragen neu zu stellen: Inwiefern können oder sollen Unternehmensinteresse und Familieninteresse harmonisiert werden? Welche Konflikte bestehen oder könnten zukünftig entstehen? Wie lassen sich diese Konflikte vermeiden, auflösen oder abmildern? Hierbei handelt es sich nicht um rechtliche Fragestellungen. Sie sollten bestenfalls beantwortet, zumindest aber aufgeworfen werden, bevor eine Nachfolgestrategie entwickelt und rechtlich umgesetzt wird.