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Recht durch Algorithmen

Von Prof. Dr. Gerhard Wagner,
Digitalisierung und Künstliche Intelligenz verändern das gesellschaftliche Gefüge grundlegend und beeinflussen Rechtsetzung, Rechtswissenschaft und Rechtspraxis. In dem jüngst erschienenen Buch „Law by Algorithm“ analysieren die Professoren Horst Eidenmüller und Gerhard Wagner konzeptionelle Fragen der Regulierung sowie ihre Auswirkungen auf neue Technologien und deren Nutzer. Wir haben bei Letzterem nachgefragt.
RDi_01_22_Interview_Wagner_WEBRDi: Was meinen Sie, wenn Sie von „Law by Algorithm“ sprechen?

Wagner: Die Digitalisierung erreicht inzwischen akademisches Niveau und damit auch die freien Berufe. „Law by Algorithm“ soll ausdrücken, dass digitale Technologien nicht mehr nur als Hilfsmittel für qualifizierte Berufsträger genutzt werden, sondern zunehmend juristische Tätigkeiten im engeren Sinne ausführen, von der Rechtssetzung bis zur Rechtsdurchsetzung. Plakativ formuliert wird der Jurist Stück für Stück durch einen Roboter ersetzt. Dieser Prozess kann niemanden, der sich für Recht und Rechtspraxis interessiert, gleichgültig lassen.

RDi: Sie behandeln in Ihrem Buch in zehn Kapiteln ein breites Themenspektrum. Wir wollen hier drei herausgreifen: Als erstes die Haftung. Soll man eine Gefährdungshaftung für intelligente autonome System einführen?

Wagner: Wir haben ja in weiten Bereichen bereits Gefährdungshaftungen, insbesondere für autonome Fahrzeuge. Aber nach § 7 StVG ist der Endnutzer verantwortlich, und darin liegt das Problem. Die Automatisierung des Straßenverkehrs führt zu einer Verlagerung der Kontrolle über das Fahrzeug, weg vom Endnutzer, hin zum Hersteller, der es zusammen mit der Steuerungssoftware in den Verkehr gebracht hat: Drive by algorithm. Die eigentliche Frage lautet daher, ob wir die Produkthaftung, die mit dem Fehlerbegriff an eine Art Fahrlässigkeitstest geknüpft ist, weiter verschärfen müssen, und zwar in Richtung einer Gefährdungshaftung des Herstellers digitaler autonomer Systeme.

RDi: Ein weiterer Schwerpunkt im Buch ist das Vertragsrecht. Hier zeigt sich besonders deutlich das Gefahrenpotenzial des Rechts durch Algorithmen, vor allem in der Online-Shoppingwelt.

Wagner: Mit Blick auf politische Themen zweifelt kaum noch jemand daran, dass die Verlagerung der Informationskanäle in soziale Medien das Denken und Handeln der Menschen beeinflusst. Es ermöglicht Manipulationen durch Fake News, und es führt zur Bildung von Echokammern und damit zur Radikalisierung. Ähnliche Entwicklungen sind im Konsumbereich zu befürchten, nämlich die Ausbeutung von kognitiven Schwächen bei der Warenbestellung, die Entwicklung von engen Konsumpfaden und die Ausbeutung durch Preisdiskriminierung. Wenn ein Home Assistant wie Alexa für mich jeden Abend das Essen bestellt und sich dabei an meinen zuvor geäußerten Präferenzen orientiert, dann wird immer das gleiche aufgetischt: Pizza ein Leben lang. Und wenn das Dating-Portal genau weiß, wieviel die Neukundin verdient, dann wird es einen Preis fordern, der deren maximaler Zahlungsbereitschaft entspricht. Die sog. Konsumentenrente wird dadurch vollständig vom Unternehmen abgeschöpft, die Verbraucherin somit auch finanziell ärmer. Für diese neuen Problemlagen muss das Vertragsrecht Lösungen entwickeln.

RDi: Zuletzt zur Digitalisierung der Rechtsdurchsetzung: Welche Folge wird sie für das Verhältnis zwischen Justiz und außergerichtlicher Streitbeilegung haben?

Wagner: Die Gewichte werden sich weiter zugunsten der außergerichtlichen Streitbeilegung verschieben, und zwar einfach deshalb, weil sie in privater Hand ist. Private Unternehmen sind viel schneller und besser darin, technologische Innovationen anzunehmen und umzusetzen als der staatliche Sektor. Die Covid-19 Pandemie hat uns allen vor Augen geführt, welche Effizienzpotenziale in digitalen Kommunikationstechnologien stecken. Und dies ist bloß der Anfang. „Law by Algorithm“ entwickelt sich auch im Bereich der Rechtsdurchsetzung: von der Anspruchsbündelung mittels Legal Tech bis zu sich selbst exekutierenden Smart Contracts. Am Horizont der technologischen Entwicklung steht der digitale Richter, ein Software-Programm, das Rechtsstreitigkeiten mit (nahezu) derselben Wahrscheinlichkeit zugunsten der einen oder anderen Partei entscheidet wie ein Mensch. Auch den Robo Judge wird es nach unserer Einschätzung zuerst im Bereich der privaten außergerichtlichen Streitbeilegung geben, nämlich als algorithmischen Schiedsrichter – zu dramatisch reduzierten Verfahrenskosten. Was werden die staatlichen Gerichte dem entgegensetzen können? Die Frage ist völlig offen.

Prof. Dr. Gerhard Wagner, LL.M. (Chicago), ist Lehrstuhlinhaber an der Humboldt-Universität zu Berlin. Das Buch von ihm und Prof. Dr. Horst Eidenmüller „Law by Algorithm“ ist 2021 erschienen bei Mohr Siebeck (ISBN 978-3-16-157508-2).

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