Rechtsanwalt Dr. Sebastian Naber, NEUWERK, Hamburg
Heft 11/2023
Die nicht eben eintönige Geschichte des Massenentlassungsrechts ist um ein Kapitel reicher: Der 6. Senat des BAG setzt am 11.5.2023 mehrere Verfahren aus (Az.: 6 AZR 157/22 (A), PM, s. NZA aktuell, H. 10/2023, S. VI). Was steckt dahinter?
Am 30.3.2023 lässt Generalanwalt Pikamäe mit einem Schlussantrag zu einer vergleichsweise unspektakulären Vorlage aufhorchen: Der 6. Senat möchte eigentlich nur geklärt wissen, ob ein Verstoß gegen § 17 III 1 KSchG europarechtlich zur Nichtigkeit der Kündigung führt (BAG Vorlagebeschl. v. 27.1.2022 – 6 AZR 155/21 (A), NZA 2022, 491). Generalanwalt Pikamäe nutzt seinen Schlussantrag indes für grundlegende Ausführungen zur Massenentlassungs-RL: Diese weisen weit über die Vorlagefrage hinaus, u.a. lässt sich ihnen eine „doppelte“ Pflicht zur Information/Anzeige gegenüber der Agentur für Arbeit entnehmen. Vor allem führt der Generalanwalt zur möglichen Nichtigkeit von Kündigungen in Rn. 53 aus, dass „der kollektive Charakter implizieren [dürfte], (…), dass die Arbeitnehmervertreter die Möglichkeit haben, Maßnahmen zu ergreifen, um überprüfen zu lassen, ob der Arbeitgeber die in diesem Artikel vorgesehene Pflicht einhält.“ Ergänzende Vorschriften stünden im Ermessen der Mitgliedstaaten, wie es etwa Arbeitnehmern zu gestatten, sich „auf die Folgen des Verstoßes (…) für die Auflösung des Arbeitsvertrags zu berufen“ (Schlussantrag v. 30.3.2023 – C-134/22, BeckRS 2023, 5798).
Verlangt Europa also gar nicht die Unwirksamkeit von Kündigungen? Letzteres bedeutete eine „Rolle rückwärts“ in die Zeit vor der Junk-Entscheidung des EuGH (27.1.2005 – C-188/03, NZA 2005, 213): Erst sie hatte der deutschen Praxis vor Augen geführt, dass die Massenentlassungs-RL primär Individualschutz bezweckt. In der Folge hatte das BAG angenommen, dass Verstöße gegen § 17 II und III KSchG regelmäßig zur Unwirksamkeit der Kündigung führen.
Dass der 6. Senat nun besonnen agiert und den EuGH abwartet, ist zu begrüßen. Denn die von Generalanwalt Pikamäes Antrag entfachte Debatte zeigt einmal mehr: Die deutsche Umsetzung der Junk-Entscheidung hätte die Rechtsprechung lieber dem Gesetzgeber überlassen, anstatt sie vorschnell durch „richtlinienkonforme“ Auslegung – wohl eher Rechtsfortbildung contra legem – herbeizuführen. Weder §§ 17 ff. KSchG noch die Massenentlassungs-RL noch der EuGH verlangen ausdrücklich die seit über 10 Jahren von der deutschen Rechtsprechung als europarechtlich geboten unterstellte Unwirksamkeit von Kündigungen. Daher bleibt die Frage berechtigt: Ist das wirklich die europarechtlich gebotene, verhältnismäßige Sanktion?
Es bleibt spannend, ob der EuGH diese Frage tatsächlich bald beantworten wird. Gut möglich ist, dass er sich auf den Kern der Vorlagefrage beschränkt. Und bezieht sich Generalanwalt Pikamäe nicht ohnehin nur auf Verstöße gegen das Konsultationsverfahren gem. Art. 2 Massenentlassungs-RL (und nicht auf ihren Art. 3)? Falscher Alarm oder „Rolle rückwärts“ – all dies wird man sehen.
Gleichwohl: Nimmt man die Bedenken des 6. Senats ernst, müsste zurzeit jedes deutsche Arbeitsgericht – gleich welcher Instanz – Verfahren aussetzen, in denen § 17 KSchG für die (Un-)Wirksamkeit der Kündigung entscheidend ist.