Rechtsanwalt Professor Dr. Georg Annuß, München
Heft 14/2025

Das BetrVG wirkt wie aus der Zeit gefallen. Sein gesamtes Wesen strahlt das klassenorientierte Denken zu Beginn der Weimarer Republik aus und reflektiert die Vorstellung vom Arbeitsverhältnis als antagonistische Über-/Unterordnungsbeziehung mit einem strukturellen Vorrang der Arbeitgeberinteressen. Sein Repräsentations- und Beteiligungskonzept versagt angesichts einer gleichermaßen entgrenzten wie ausdifferenzierten und hochvernetzten Wettbewerbsgesellschaft. Folgerichtig funktioniert betriebliche Mitbestimmung in Großbetrieben häufig nicht wegen, sondern trotz des BetrVG, indem sich Beteiligungspraktiken abseits der gesetzlichen Regelungen entwickeln. Die Weltferne des BetrVG und seine damit in verschiedener Hinsicht verbundene Dysfunktionalität dürften ein wesentlicher Grund für die dramatisch schwindende Attraktivität von Betriebsräten sowie einer Betätigung als Betriebsratsmitglied sein.
Indes ist eine wirkungsvolle demokratische Beteiligung der Beschäftigten an der Gestaltung ihrer Arbeitssituation für die Sicherung ihrer berechtigten Freiheits- und Selbstverwirklichungsinteressen unverändert eminent bedeutsam. Deshalb ist im Ausgangspunkt zu begrüßen, dass der Bundesrat mit seiner Entschließung vom 11.7.2025 zur Modernisierung der betrieblichen Mitbestimmung die Bundesregierung auffordert, „eine grundlegende Überarbeitung des Betriebsverfassungsgesetzes mit dem Ziel der Modernisierung der betrieblichen Mitbestimmung vorzunehmen“ (BR-Drs. 239/25, Beschluss, S. 2).
Inhaltlich ist die Entschließung des Bundesrats allerdings enttäuschend. Sie ist – wie der viel zu kurz greifende Reformentwurf des DGB aus dem Jahr 2022 (dazu Annuß NZA 2022, 694) – gedanklich dem geltenden BetrVG verhaftet und kommt deshalb nicht einmal auf die Idee, dass eine gelingende Reform der betrieblichen Mitbestimmung nicht aus der arbeitsrechtlichen Binnenperspektive gestaltet werden kann, sondern eine gesellschaftspolitische Gestaltungsaufgabe ist, deren Bewältigung einen längerfristigen positions- und disziplinübergreifenden Diskurs voraussetzt.
Nicht die Anpassung einzelner Beteiligungsrechte – etwa die Erstreckung der Interessenausgleichsbedürftigkeit auf Betriebsübergänge – oder die Klärung der datenschutzrechtlichen Anforderungen entscheiden über die Zukunft der Mitbestimmung, wie es in der Entschließung des Bundesrates scheint. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob ein Beteiligungsmodell entwickelt werden kann, das die Arbeitnehmerinteressen unter Anerkennung der aus einem freiheitlichen Wettbewerbssystem folgenden Zwänge mit den Belangen der Arbeitgeber zu einem den Wertvorstellungen unserer modernen Gesellschaft entsprechenden Ausgleich bringt.
Voraussetzung dafür ist, dass die Erarbeitung von Neuordnungsvorschlägen auf einer breiten Interessenanalyse beruht und von einem dominierenden Verbändeeinfluss freigehalten wird, um der Artikulation und ernsthaften Würdigung auch scheinbar unrealistischer Überlegungen Raum zu geben. Dabei sollte die berühmte Mahnung von Max Weber beherzigt werden, dass man in der Politik das Mögliche nicht erreicht, wenn man nicht immer wieder nach dem Unmöglichen greift (Weber, Politik als Beruf, 1919).
