Präsident des LAG Dr. Jürgen vom Stein, Köln
Heft 9/2024
Als der Gesetzgeber am 1.5.2004 in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ein neues arbeitsrechtliches Rechtsinstitut etablierte, war es das erklärte Ziel, bei gesundheitlichen Störungen durch Einführung eines verpflichtenden Klärungsverfahrens die Gesundheitsprävention am Arbeitsplatz zu stärken, um das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft zu sichern (BT-Drs. 15/1783,16).
20 Jahre später fällt eine (Zwischen-)bilanz der Regelung in § 167 II SGB IX zwiespältig aus. Einerseits hat das Klärungsverfahren in der betrieblichen Praxis sicherlich den Blick auf Prävention und leidensgerechte Beschäftigungsalternativen geschärft und Hilfestellungen aktiviert. Das bEM stellt daher einen wichtigen Beitrag zur Beschäftigungssicherung und für eine humane Arbeitswelt dar.
Andererseits werden nur rund 40 % der erforderlichen bEM tatsächlich angeboten. In kleineren Betrieben, im Handwerk und im Dienstleistungsbereich sind es noch weniger (Wrage/Sikora/Wegewitz, BAuA-Faktenblatt 37, 2020). Die Betriebspraxis kritisiert vielfach, dass belastbare aktuelle Erkenntnisse zu Aufwand, Wirksamkeit und Erfolg des Rechtsinstituts fehlen und eine rechtliche Überwölbung des gesamten Verfahrens mit richterrechtlichen Erweiterungen und ungeklärten Fragen stattgefunden habe. Hohe organisatorische Anforderungen sowie Unsicherheiten sowohl auf Seiten der Betroffenen als auch auf Seiten der Arbeitgeber seien die Folge.
Vor diesem Hintergrund hat die Politik in Berlin bereits seit einiger Zeit Reformbedarf ausgemacht. Schon in den Koalitionsverträgen vom 16.12.2013 und 12.3.2018 hatten die jeweiligen Koalitionäre vereinbart, das bEM stärken zu wollen. Auch die aktuelle Ampel-Koalition hat dieses Ziel in ihrem Koalitionsvertrag vom 7.12.2021 fortgeschrieben. Abgesehen von einer (weitgehend deklaratorischen) Ergänzung in § 167 II 2 SGB IX (Vertrauenspersonen) im Jahr 2021 steht eine Reform aber bis heute aus, was bereits zur Gründung einer bundesweiten bEM-Reforminitiative geführt hat (bem-initiative.net).
Tatsächlich ist eine Reform notwendig, die insbesondere auch die praktische Handhabung erleichtert, rechtliche Grauzonen und unnötige Bürokratie beseitigt und es so allen Beteiligten ermöglicht, sich auf die eigentliche Aufgabe – die wichtige Präventionsarbeit im Einzelfall – zu konzentrieren. Dazu könnten etwa klare Regelungen zur Informationspflicht (zB mit Formularmustern wie etwa in Art. 242 EGBGB, § 2 iVm RL 2008/122/EG), zum Datenschutz (mit Harmonisierung zur DS-GVO), zur Frage eines Individualanspruchs, zur Notwendigkeit von bEM-Angeboten bei Dauererkrankung bzw. nach mehrfacher Ablehnung oder auch zur streitigen Frage der Nutzung von Daten aus bEM-Verfahren im Arbeitsgerichtsprozess gehören.
Programmroutinen brauchen ebenso wie in der digitalen auch in der juristischen Welt von Zeit zu Zeit ein Update. Ministerien und Parlament sollten nicht länger zuwarten.