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NZA Editorial

 

Nadelstichtaktik

Professor Dr. Richard Giesen, ZAAR, Ludwig-Maximilians-Universität München

Heft 7/2024

Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 7/2024, Prof. Dr. Richard GiesenIm 12. März erlaubte das LAG Hessen (10 GLa 229/24) der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), einen Streik zu führen, der nur 22 Stunden vor seinem Beginn angekündigt worden war. Dem waren erstaunliche Dinge vorangegangen. Die GDL hatte unter Streikandrohung gefordert, binnen einer von ihr festgesetzten Frist müsste die Arbeitgeberseite ein schriftliches Angebot vorlegen. Hier diktierte eine Seite die Art des Umgangs, was mit freien Tarifverhandlungen wenig zu tun hatte. Der Vorsitzende Weselsky hatte einen vorangegangenen Streik unter unzutreffender Inhaltsangabe eines Moderatorenvorschlags ausgerufen – weshalb er später gegenüber der Süddeutschen Zeitung einen „Denkfehler“ eingestand, um dem Vorwurf eskalationsfördernder Täuschung zu entgehen. Die GDL führte den Arbeitskampf im Interesse der von den Gewerkschaftsverantwortlichen gegründeten „Fairtrain e. G.“, was deutliche Zweifel an ihrer Tariffähigkeit aufkommen ließ. Und sie hatte daran festgehalten, die DB solle das Tarifeinheitsgesetz (§ 4a II TVG) nicht anwenden. Zudem wurden viele Betriebe bestreikt, in denen die angestrebten Tarifverträge gar nicht anwendbar sein würden, und zwar wegen der dortigen Minderheitsposition der GDL nach § 4 II TVG. Das alles sprach gegen die Rechtmäßigkeit des Streiks, wenn auch der Öffentlichkeit die Details möglicherweise nicht in Gänze gegenwärtig waren. Gegenwärtig waren der Öffentlichkeit aber sicherlich zwei Merkmale des Streiks, nämlich erstens, dass er den Schienenverkehr in Deutschland weitgehend lahm legte, und zweitens, dass die Ankündigungsfrist zu kurz war. Fahrten waren, vor allem für Menschen, die beim Reisen auf Hilfe angewiesen sind, nicht mehr planbar. Das war gewollt, denn die ausdrückliche GDL-Ankündigung lautete, die Bahn würde aufgrund der neuen „Wellenstreiktaktik“ nunmehr „kein zuverlässiges Verkehrsmittel mehr“ sein. Umso erstaunlicher war, was die Hörer und Leser der Berichterstattung am 12. März als Kernbegründung des LAG erfuhren: Das Instrument des Wellenstreiks sei als Nadelstichtaktik zulässig, so der Vorsitzende Richter.

Als Bürger des Landes, in dem die Begriffsjurisprudenz erfunden wurde, fragt man sich natürlich, was „Nadelstichtaktik“ bedeutet. Die Arbeitsgerichte geben zur Definition nur wenig Hilfestellung (lesenswert aber ArbG Frankfurt a. M. 28.2.2012 – 9 Ga 25/12, NZA 2012, 579). Ein Nadelstich tut weh, richtet aber keinen größeren Schaden an? Das kann man, muss man aber nicht so sehen. 

Bleibt abzuwarten, ob dieser Begriff auch in der Urteilsbegründung zu lesen sein wird. Möglicherweise nicht, denn die Pressemitteilung des LAG Hessen liefert eine ganz andere Erklärung. Dort heißt es, die „Gerichte seien grundsätzlich nicht befugt, neue, das Arbeitskampfrecht … einschränkende Regelungen zuzulassen, wenn und soweit der Gesetzgeber sich für ein Modell des freien Spiels der Kräfte entschieden habe.“ Der „Gesetzgeber“ soll „entschieden“ haben? Dass hier etwas nicht stimmen kann, sticht ins Auge. 

Wie auch immer. Es bleibt dabei, dass sich die gerichtliche Prüfung gewerkschaftlicher Arbeitskampfmaßnahmen – frei nach Gary Lineker – leicht prognostizieren lässt: Am Ende gewinnt immer die GDL.

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