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NZA Editorial

 

Die 35-Stunden-Woche – Ein-, Zwei- oder Mehrbahn-Straße?

Rechtsanwalt Professor Dr. Cord Meyer, Berlin/Stemwede

Heft 5/2024

Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 5/2024 Cord MeyerDie Gewerkschaften fordern in den aktuellen Tarifauseinandersetzungen eine 35-Stunden-Woche – bei vollem Lohnausgleich – als gemeinsames Credo von der GDL bis ver.di. Im Gegensatz zu den Zeiten, als die IG Metall erstmals die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche erhob, ist das arbeitsmarktpolitische Umfeld drastisch verändert: Anstelle eines damals – tendenziell – Über-Angebots an Arbeitnehmern, herrscht heute ein Arbeitskräftemangel vor. Dies bedeutet etwa im DB Konzern, dass das Angebots-Volumen gegenüber den Kunden im worst case um ca. 10 % absinkt, wenn die verkürzte Arbeitszeit nicht durch andere – zudem im Zweifel nur befristet beschäftigte – Arbeitnehmer kompensiert wird. Und das in einer Zeit, in der die Politik von einer „Verkehrswende“ von der Straße auf die Schiene nicht nur im Kontext des 49 EURO-Tickets spricht. Die aktuellen Tarifkonflikte fokussieren sich auf die ohnehin kritischen Zweige der Infrastruktur und Daseinsvorsorge – von dem ÖPNV bis hin zum SPNV.

Die insbesondere im Falle der GDL hingegen eher an ein Diktat erinnernde Forderung nach der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich – und zwar „flächendeckend“ in allen EVU (= Eisenbahn-Verkehrs-Unternehmen) aufgrund einer diese strikt knebelnden Junktim-Klausel – widerspricht zum einen dem im Allgemein-Interesse liegenden Auftrag der Daseinsvorsorge durch Absicherung der Mobilität in unserer Republik. Das BAG begründete zum anderen den Schwenk zur Tarifpluralität am 7.7.2010 (NZA 2010, 1068) damit, dass in der Realität des Arbeits- und Wirtschaftslebens eine Tendenz zur Individualisierung bestehe. Nimmt man diese Aussage als zutreffende Feststellung der gesellschaftlichen Entwicklung ernst, so verwundert es schon, dass aktuell Gewerkschaften meinen, ihren Mitgliedern rigide eine „Einbahn-Straße“ verordnen zu müssen. Liegt es umgekehrt nicht im Interesse auch der Res Publica, dass individuelle Lösungen als „Mehrbahn-Straßen“ dem Trend der Zeit entsprechen? Das BAG jedenfalls sieht eine Absenkung der Arbeitszeit nicht eindeutig als günstigere Lösung nach § 4 III TVG an (vgl. BAG 27.1.2004 – 1 AZR 148/03NZA 2004, 667). 

Weil eine demokratische Binnen-Struktur das verbindende verfassungsrechtliche Band innerhalb der Gewerkschaften ist, müssen deren Mitglieder selbst wählen, ob ihnen eine Absenkung – trotz ggf. fehlendem vollem Lohn-Ausgleich – oder ein Beibehalt oder gar eine Anhebung der Arbeitszeit genehmer ist. Dadurch könnten zum einen die Arbeitnehmer auch für eine höhere Arbeitszeit – entsprechend ihrem Lebensbild – votieren; zum anderen bliebe auch die Allgemeinheit vor einer einseitigen Absenkung des Leistungs-Volumens in der Daseins-Vorsorge bewahrt. Dies entspräche nicht nur dem möglichst schonenden Ausgleich der involvierten Werte von Verfassungsrang, sondern ebenso der mit Art. 9 III 1 GG verbundenen staatlichen Verantwortung von Tarifparteien in der Daseinsvorsorge. Ansonsten droht die gesetzliche Anordnung eines in Europa üblichen „Service Minimums“, insbesondere a la France et Italy. 

Anstelle einer rigiden Vorgabe der Kollektivparteien sollte so eine flexible Wahl-Entscheidung des Individuums mit Rücksicht auf die persönliche Lebensplanung treten. „One Size fits all“ – diese Devise gehört in die tarifpolitische „Motten-Kiste“, nimmt man das Axiom von Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privat-Autonomie ernst. „Suum Cuique“ – diese Devise ist auch heute noch en vogue.

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