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NZA Editorial

 

Rechtsprechungsänderung im Massenentlassungsrecht?

Rechtsanwalt Professor Dr. Mark Lembke, LL.M. (Cornell), Greenfort, Frankfurt a. M.

Heft 4/2024

Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 4/2024, Mark Lembke

Am 14.12.2023 (6 AZR 157/22 (B), NZA 2024, 119) kündigte der 6. Senat des BAG eine Änderung seiner Rechtsprechung zu §§ 17 ff. KSchG an: „Nach nochmaliger Prüfung der Rechtslage“ sei er zur Auffassung gelangt, ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige (§ 17 I KSchG) habe ebenso wie alle anderen denkbaren Fehler im Anzeigeverfahren (§ 17 III KSchG) nicht die Nichtigkeit der Kündigung (§ 134 BGB) zur Folge. Die gebotene Sanktion müsse vielmehr der Gesetzgeber bestimmen (Rn. 7). Bezüglich der Sanktion bei Fehlern im Konsultationsverfahren (Nichtigkeit der Kündigung) sei eine Änderung der Rechtsprechung hingegen nicht veranlasst (Rn. 51). Im Hinblick darauf wurde der 2. Senat angefragt, ob er dieser Änderung folge oder an seiner entgegenstehenden Rechtsprechung festhalte (vgl. § 45 III 1 ArbGG). 

Höchstrichterliche Rechtsprechung entsteht aufgrund eines „prinzipiell irrtumsanfälligen Erkenntnisprozesses“ (BVerfG NZA 1993, 213 (214)) und kann Änderungen unterliegen. Daher kann es einem Unternehmen (wie zB Air Berlin) passieren, dass es jahrelang die Instanzen durchläuft und unterliegt, um nun zu erfahren, dass die Entscheidungen (aus der ersten Runde) doch nicht richtig waren. Schon aus Gründen der Rechtssicherheit sollten die höchsten Gerichte „bessere Einsicht“ nur auf Grundlage ganz überzeugender Argumente äußern. Dies ist beim Vorlagebeschluss des 6. Senats nicht uneingeschränkt der Fall.

Wenig überzeugend ist bereits die Differenzierung: keine Folgen für Fehler im Anzeigeverfahren, hingegen Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB bei Fehlern im Konsultationsverfahren. Gerade auf Nachfrage des 6. Senats hatte der EuGH erst jüngst zum Konsultationsverfahren entschieden, dass „das Recht auf Information und Konsultation den Arbeitnehmervertretern zukommt und nicht dem einzelnen Arbeitnehmer [und] dass Art. 2 III [MERL] den betroffenen Arbeitnehmern einen kollektiven und keinen individuellen Schutz gewährt“ (EuGH NZA 2023, 1454 Rn. 32; NZA 2023, 887 Rn. 37). Dies legt es nahe, das Konsultationsverfahren bzw. § 17 II KSchG – entgegen dem 6. Senat – gerade nicht als Verbotsnorm iSd § 134 BGB anzusehen und Fehler im Konsultationsverfahren nicht einem Unwirksamkeitsverdikt zu unterwerfen.

Nicht überzeugend ist ferner, dass jegliche Fehler im Anzeigeverfahren künftig nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führen sollen, obwohl die Anzeigepflicht nach dem BAG mittelbar „auch individualschützende Wirkung“ hat. Damit fällt der 6. Senat sogar hinter seine alte Rechtsprechung aus 2005 zurück, wonach jedenfalls bei – entgegen § 17 I KSchG – vollständig unterlassener Massenentlassungsanzeige die Entlassung nicht wirksam werden kann (§ 18 I KSchG) und die dauerhafte Entlassungssperre dieselben Rechtswirkungen wie § 134 BGB hat (BAG NZA 2005, 1109 (1110 f.)).

Zu Recht hat sich der 2. Senat den Ausführungen des 6. Senats nicht angeschlossen, sondern am 1.2.2024 vor Durchführung eines Verfahrens beim Großen Senat des BAG den EuGH zur Klärung der Folgen von Verstößen im Anzeigeverfahren (vgl. Art. 4 und 6 MERL) angerufen (2 AS 22/23 (A), NZA 2024, 257). Man darf gespannt sein, wieviel „Junk“ nach der Entscheidung des EuGH noch übrig bleibt.

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