Professor Dr. Jens M. Schubert, Leuphana Universität Lüneburg
Heft 23/2023
Am 1.1.2024 tritt das modernisierte und verbreiterte Opferentschädigungsrecht als Bestandteil des SGB XIV vollständig in Kraft (Art. 60 SozERG) und ist nun als „Soziales Entschädigungsrecht“ zu merken. Insbesondere Opfer von Gewalttaten sollen vom Staat (neben den zivilrechtlichen Ansprüchen gegen die Täter) vielfältige Unterstützung erfahren bzw. Rechtsansprüche, auch Rehabilitationsangebote erhalten. Hintergrund ist die grundsätzlich gesehene Verantwortung des Staates bei der Bewältigung von Gewalttaten als Element des Sozialstaatsprinzips.
Aber was hat dies mit dem Arbeitsrecht zu tun? Zum einen ist das soziale Entschädigungsrecht nicht auf ein bestimmtes Umfeld beschränkt – auch der Arbeitsplatz ist vom Gesetz erfasst (und wird auch im offiziellen Antragsvordruck abgefragt). Zum anderen ist es der Gewaltbegriff selbst. Er umfasst körperliche und psychische Gewalttaten (§ 13 SGB XIV) und ist nicht etwa auf Krieg oder Terrorakte beschränkt, wie man vielleicht meinen könnte (vgl. BT-Drs. 19/13824, S. 176; zum Arbeitsplatz bereits LSG Hessen 22.9.2016 – L 1 VE 7/12, BeckRS 2016, 122896 Rn. 31). Beide Gewaltformen sind in § 13 SGB XIV legaldefiniert.
Liest man dies, wird die Brücke zu Belästigung und zur sexuellen Belästigung des § 3 III, IV AGG oder zu Phänomenen wie Mobbing, Rassismus und Stalking am Arbeitsplatz sichtbar, auch wenn zB die „Schwellenwerte“ von § 13 I Nr. 1 SGB XIV und § 3 III, IV AGG nicht komplett deckungsgleich sind (das AGG greift bereits bei Belästigungen ein, die noch nicht Gewalt iSd Entschädigungsrechts sein müssen; vgl. die Beispiele bei HK-AGG/Schrader/Schubert, 5. Aufl., § 3 Rn. 92 ff., 100; s. auch Gravenhorst NZA 2023, 1425). Liegen die weiteren Voraussetzungen des SGB XIV jedoch vor, sind Ansprüche jenseits von § 15 AGG oder §§ 823, 826, 1004 BGB denkbar, die zudem keinen Ausschlussfristen unterliegen.
Und damit ist die soziale Entschädigung auch ein Thema für Betriebs- und Personalräte. Sie sollten von den Möglichkeiten des SGB XIV wissen und geschult sein, um auch diesbezüglich in Grundzügen informieren zu können. Aber auch für Arbeitgeber ist dies wichtig, können doch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben genutzt werden (§§ 63 f. SGB XIV), um ein ggf. durch Traumatisierung belastetes Arbeitsverhältnis mit Hilfen erhalten zu können. So sind die Leistungen zugleich bedeutsam in einem BEM und für § 5 ArbSchG.
Ferner wird das Entschädigungsrecht stärker für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes relevant werden, die nach § 27 II AGG über Ansprüche und Beratungsangebote zu informieren hat. Dieses Verständnis passt zu dem kürzlich ratifizierten ILO-Übereinkommen 190 zur Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt (BGBl. 2023 II 142), das zu einer entsprechenden völkerrechtkonformen Auslegung des nationalen Rechts anhält. In Art. 4 Ziffer 2 lit. e des Abkommens wird die Sicherstellung des Zugangs für betroffene Personen zu Unterstützungsmaßnahmen verlangt. Dies gilt gerade für besonders schwerwiegende Fälle, wie die der sexualisierten Gewalt gegen Frauen am Arbeitsplatz (vgl. nur „Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz“, Studie der ADS 2019). Wenn solche Gewalt vorliegt, wird nunmehr das SGB XIV den betroffenen Frauen ganz direkt (und schnell) Unterstützung geben können. Dies gilt auch etwa für antisemitisch oder ausländerfeindlich motivierte Gewalttaten am Arbeitsplatz. Insgesamt hält das SGB XIV dazu an, über den Rand „unseres“ Arbeitsrechts in das Sozialrecht zu schauen.