Rechtsanwälte Dr. Ulrich Sittard und Dr. Benjamin Pant, Freshfields Bruckhaus Deringer, Düsseldorf
Heft 24/2022
Durch eine methodisch ambitionierte und vom europarechtlich gewollten Ergebnis beeinflusste Auslegung einer Rahmenvorschrift will das BAG (v. 13.9.2022, NZA 2022, 1616) nun entdeckt haben, was bisher verborgen war: Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gibt es bereits. Dies soll sich aus § 3 II Nr. 1 ArbSchG ergeben, und zwar ab sofort. Oder eigentlich schon seit der CCOO-Entscheidung des EuGH vom 14.5.2019 (NZA 2019, 683). Es hatte nur niemand gemerkt, weshalb viele den Gesetzgeber am Zug sahen. Das ist er aber auch jetzt – der 1. Senat drängt den Gesetzgeber geradezu zu einer Regelung. Ein Referentenentwurf soll schon im ersten Quartal 2023 vorlegt werden. Besteht wegen der sofort geltenden Pflicht für Arbeitgeber Grund zur Panik? Der Eindruck mag beim Blick in die Presse und Social Media entstehen. Aber: Der Zeiterfassungsbeschluss ist eine gerichtliche Entscheidung und kein Gesetz. Es ist zwar naheliegend, dass andere Gerichte und Behörden ihn schon jetzt heranziehen. Das BAG geht in der Sache aber von einer weit verstandenen Rahmenpflicht aus, die beträchtlichen Spielraum zulässt. Besteht ein Betriebsrat, ist dieser an der Ausgestaltung der Zeiterfassung zu beteiligen. Der Arbeitgeber mit Betriebsrat kann die Entscheidung also gar nicht „sofort“ umsetzen.
Die Reaktionsmöglichkeiten für Arbeitgeber sind breit gefächert: Die Einführung von neuen Zeiterfassungssystemen kostet Zeit, personelle Ressourcen und Geld. Sie setzt eine Gefährdungsbeurteilung voraus. Gleichzeitig droht bei der übereilten Neueinführung ausdifferenzierter Systeme die Gefahr, dass das ausverhandelte Ergebnis durch ein neues „Arbeitszeiterfassungsgesetz“ überholt wird. Damit ist niemandem geholfen. Das kann sogar bei einer übergangsweisen „Zeiterfassung light“ (zB Selbstaufzeichnung in Excel/Papier) passieren, weil etwa Mitarbeitergruppen aufgenommen werden, die vom Gesetzgeber ausgeklammert werden. Unseres Erachtens dürfen Arbeitgeber deshalb noch auf konkretere Signale aus Berlin warten. Bußgelder drohen selbst in diesem Fall zunächst nicht.
Eines sollte aber klar sein: Zeiterfassung betrifft „nur“ formelles Arbeitszeitrecht. Viel komplexer ist die Frage, was materiell die zu erfassende Arbeitszeit ist und welches Arbeitszeitrecht zu einer modernen Arbeitswelt passt. Dies ist die eigentliche rechtspolitische Aufgabe. Richtig wäre es, über die Zeiterfassung hinaus in einen politischen Diskurs über zeitgemäße tätigkeitsbezogene Ausnahmen/Sonderregelungen für bestimmte Mitarbeitergruppen einzutreten. Gerade Mitarbeiter mit selbstständiger Entscheidungsbefugnis und Arbeitszeitautonomie sollten von der Erfassungspflicht ausgenommen werden. Diese Diskussion sollte ohne Vermischung von öffentlich-rechtlichem und vergütungsrechtlichem Arbeitszeitbegriff geführt werden. Zugleich ist der Gesetzgeber angehalten, den bestehenden gesetzlichen Flickenteppich in der Zeiterfassung durch eine kohärente Gestaltung der Zeiterfassungspflicht zu beseitigen und die diversen einzelgesetzlichen Zeiterfassungspflichten (zB im MiLoG) abzuschaffen. Nicht nur unambitioniert, sondern schädlich wäre ein bloßes Abschreiben der BAG- und EuGH-Prinzipien durch den Gesetzgeber. Gleichwohl, wir wünschen allen schöne und entspannte Weihnachten!