Universitäts-Professor Dr. Wolfgang Hamann, Duisburg-Essen
Heft 22/2022
Nach dem „CGZP-Desaster“, das durch die Entscheidung des BAG vom 14.12.2010 (1 ABR 19/10, NZA 2011, 289) zur Unwirksamkeit der „Billigtarifverträge“ der nicht tariffähigen Arbeitnehmervereinigung „Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit und PSA“ ausgelöst wurde, droht der Zeitarbeitsbranche womöglich ein Déjà-vu. Art. 5 I Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit stellt den Grundsatz des „equal pay and equal treatment“ zugunsten der Leiharbeitnehmer auf. Absatz 3 ermöglicht den Sozialpartnern, durch Tarifverträge von diesem Grundsatz abzuweichen, allerdings nur unter der „Wahrung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“.
Zur Klärung dieses Postulats hat das BAG mit Beschluss vom 16.12.2020 (5 AZR 143/19, NZA 2021, 800) ein Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 III AEUV eingeleitet (EuGH – C-311/21). Nun lassen die Schlussanträge von Generalanwalt Collins aufhorchen: Jede in einem Tarifvertrag enthaltene Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung zulasten der wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern müsse durch die Gewährung von Vorteilen in Bezug auf andere wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen iSv Art. 3 I Buchst. f Leiharbeits-RL ausgeglichen werden. Das Arbeitsentgelt sei eine derart fundamentale Beschäftigungsbedingung, dass für jede Abweichung strengste Anforderungen an ihre Rechtfertigung zu stellen seien (Rn. 39). Und weiter: Bei den Ausgleichsvorteilen müsse es sich um solche handeln, die für unmittelbar vom entleihenden Unternehmen eingestellte Arbeitnehmer nicht zur Verfügung stünden (Rn. 48).
Die aktuellen Tarifverträge der Zeitarbeitsbranche bleiben deutlich hinter diesen Anforderungen zurück, sämtliche Zeitarbeitstarifverträge wären unionsrechtswidrig. Es gölte der Grundsatz der Gleichbehandlung, und zwar rückwirkend, sofern der EuGH die zeitliche Wirkung seines Judikats nicht begrenzt. Angesichts der unter anderem durch die Medien bekannt gewordenen „Däubler-Kampagne“ wäre mit zahlreichen Equal Pay-Klagen von Leiharbeitnehmern zu rechnen und – unabhängig davon – mit erheblichen Nachforderungen von Sozialversicherungsbeiträgen, für die die entleihenden Unternehmen subsidiär hafteten (§ 28e II SGB IV).
Dem lässt sich nicht entgegenhalten, die Tarifparteien hätten ja nur die durch § 8 II–IV AÜG eröffneten Abweichungsmöglichkeiten genutzt und im Unterschied zu den „CGZP-Billigtarifverträgen“ handele es sich bei den zwischen der DGB-Tarifgemeinschaft und BAP bzw. iGZ vereinbarten Tarifwerken um „seriöse und gut dotierte“ Tarifverträge (so Bissels DB 2022, 2089). Diese Argumentation verkehrt den mit der Leiharbeits-RL verfolgten Schutz der Leiharbeitnehmer ins Gegenteil. Verantwortlich für die nicht korrekte Umsetzung der Leiharbeits-RL ist immer noch der Gesetzgeber, also der Staat. An ihn sind Regressansprüche zu adressieren.
Ob es zum GAU kommt, ist derzeit völlig ungewiss. Gegen die 1:1-Übernahme der Schlussanträge spricht, dass Art. 5 III Leiharbeits-RL praktisch bedeutungslos würde. Die Leiharbeit wäre auf die Bewältigung kurzfristiger und zeitlich begrenzter Personalengpässe reduziert. Vielleicht soll aber genau das die Funktion der Leiharbeit sein, die dem EuGH vorschwebt.
Also: Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Zukunft der Zeitarbeitsbranche.