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NZA Editorial

 

Living Wage statt marktorientierter Mindestlohn?

Professor Dr. Christian Picker, Universität Konstanz

Heft 19/2022

Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 19/2022 Christian PickerIn einer freiheitlich verfassten Rechts- und Wirtschaftsordnung werden Löhne nicht dirigistisch vom Staat festgesetzt. Die Lohnfindung erfolgt vielmehr privatautonom; insbesondere die Gewerkschaften sind verfassungsrechtlich dazu berufen, „gerechte“ Löhne im Wege „kollektiv ausgeübter Privatautonomie“ für ihre Mitglieder durchzusetzen. Die Tarifautonomie verleiht den Tarifvertragsparteien jedoch kein Normsetzungsmonopol. Die subsidiäre Regelungskompetenz des Staates greift vielmehr dann ein, „wenn die Koalitionen die ihnen übertragene Aufgabe, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, im Einzelfall nicht allein erfüllen können und die soziale Schutzbedürftigkeit einzelner Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen oder ein sonstiges öffentliches Interesse ein Eingreifen des Staates erforderlich macht“ (BVerfGE 44, 322 (342) = AP TVG § 5 Nr. 15). Und da die Tarifautonomie im Niedriglohnsektor strukturell versagt, durfte der Gesetzgeber 2015 mit dem MiLoG intervenieren, um weiteren Lohnunterbietungswettbewerb zu verhindern und so kumulativ die sozialen Sicherungssysteme wie die Privatautonomie der betroffenen „Niedriglöhner“ zu schützen (C. Picker, RdA 2014, 25 ff.). Damals betonte der Gesetzgeber auch klar die Subsidiarität staatlicher Lohnkorrektur: „Der Mindestlohn zielt im Unterschied zum Tarifvertrag nicht darauf ab, einen umfassenden Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherzustellen“; deshalb sollte der Mindestlohn diese „vor Niedrigstlöhnen“ schützen, „die branchenübergreifend als generell unangemessen anzusehen sind“ (BT-Drs. 18/1558, S. 28).

Der neue Mindestlohn soll hingegen der „Sicherung einer angemessenen Lebensgrundlage“ dienen; entsprechend soll „künftig der Aspekt der gesellschaftlichen Teilhabe bei der Mindestlohnhöhe stärker Berücksichtigung finde[n]“ (GE BReg v. 23.2.2022, S. 16 f.). In die gleiche Richtung gehen Bestrebungen innerhalb der EU, wonach die Mindestlohnhöhe in den Mitgliedstaaten 60% des jeweiligen nationalen Medianlohns betragen soll. Der Gesetzgeber will mit einem solchen Mindestlohn nicht mehr nur ein Mindestmaß vertraglicher Austauschgerechtigkeit bestimmen, mithin nicht mehr nur negativ festlegen, ab wann ein Lohn jedenfalls unangemessen ist. Vielmehr will er positiv definieren, welcher Lohn bedarfsangemessen ist. Dies ist staatliche Lohnpolitik, die den privaten Arbeitgeber systemwidrig zum Unterhaltsschuldner seiner Arbeitnehmer degradiert und die Tarifautonomie verfassungswidrig selbst dort usurpiert, wo diese tatsächlich funktioniert. Ein solcher „Mindestlohn“ missachtet die Grenzproduktivität der Arbeitsleistung als ehernes Lohngesetz: Gibt „der Markt“ keinen höheren Mindestlohn her, so werden nicht nur keine neuen Arbeitsplätze geschaffen, sondern bestehende vernichtet. Ein Gesetzgeber, der nicht sicherstellt, dass Produktivität und Mindestlohnhöhe im Niedriglohnsektor korrespondieren, und der durch einen zu hohen Mindestlohn Arbeitslosigkeit verursacht, konterkariert damit die beiden legitimen Regelungsziele des MiLoG: Er schützt die Berufsfreiheit der Arbeitnehmer nicht, sondern beschränkt diese; und er entlastet den Sozialstaat nicht, sondern belastet diesen zusätzlich. Download

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