Heft 16/2022
Durch Massenverfahren hat die Belastung der deutschen Justiz in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Ausgangspunkt hierfür war die Flut an Klagen vor den Zivilgerichten im Zusammenhang mit dem sog. Dieselskandal. Auch auf Grundlage dieser Erfahrungen werden seit einiger Zeit vor allem justizintern Lösungsvorschläge für eine bessere Bewältigung von Massenverfahren erörtert. Während sich diese Diskussionen bisher primär mit Reformen des Zivilprozessrechts befassen, hat die Justizministerkonferenz der Länder auf ihrer Herbsttagung am 11. und 12.11.2021 beschlossen, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die etwaige Vorschläge zur Reform des Arbeitsprozessrechts ergebnisoffen prüfen soll (Beschluss abrufbar unter https://www.justiz.nrw/JM/jumiko/beschluesse/2021/Herbstkonferenz_2021/TOP-I_-4---Massenverfahren-Arbeitsrecht.pdf). Ist das Arbeitsverfahrensrecht aber ohne Reformen tatsächlich nicht in der Lage, Sammelklagen prozessökonomisch abzuwickeln? Bedarf es hierfür gar der Einführung einer Verbandsklage?
Fakt ist, dass es auch im Arbeitsrecht das Phänomen der Massenklagen gibt, etwa die Klagen tausender ehemaliger IBM-Mitarbeiter/innen wegen ihrer Betriebsrentenanpassung (PM vom 20.7.2011, abrufbar unter https://landesarbeitsgericht-badenwuerttemberg.justiz-bw.de/pb/,Lde/2355224/?LISTPAGE=2355174, s. auch Diller 1105 in diesem Heft) oder die Verfahren zur unterschiedlichen Höhe der Nachtzuschläge in der Getränke- und Süßwarenindustrie (BAG 9.12.2020 – 10 AZR 332/29 (A), NZA 2021, 1121, s. dazu aktuell EuGH 7.7.2022 – C-257/21, NZA 2022, 971 und Creutzfeldt NZA 2022, 1032). Hierdurch werden erhebliche gerichtliche Ressourcen gebunden, zumal alle individuell betroffenen Klageparteien ihre Rechte in separaten Verfahren geltend machen müssen. Zwar existieren bereits prozessuale Instrumente zur Geltendmachung von Ansprüchen einer Vielzahl gleichartig Betroffener.
Wie auch immer man zur Behandlung von Massenklagen und Reformen im Arbeitsprozessrecht steht: Die Zeit ist reif für fachliche Diskussionen, zumal die europäische Verbandsklagerichtlinie (RL (EU) 2020/1828) bis Ende des Jahres 2022 ohnehin in deutsches Recht umgesetzt werden muss. Zwar sieht diese keine umfassende Regelung von Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern vor. Den Mitgliedstaaten bleibt es aber unbenommen, die Regelungen der Richtlinie auf weitere Rechtsvorschriften zu erstrecken. Und auch der aktuelle Koalitionsvertrag der Ampelkoalition sieht vor, den kollektiven Rechtsschutz weiter auszubauen (vgl. S. 106).
Die Reise hat also erst begonnen – Endziel unbekannt.