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NZA Editorial

 

„Soll = Muss“ – die neue Formel bei Massenentlassungsanzeigen?

Rechtsanwalt Professor Dr. Mark Lembke, LL.M. (Cornell), Greenfort, Frankfurt a. M.

Heft 9/2022

Foto des Autors von NZA-Editorial Heft 9/2022 Mark Lemke

„Die Rechtsprechung des EuGH und des BAG ziehen für den Arbeitgeber, der Massenentlassungen durchführen muss, einen Pflichtenkatalog nach sich, den er dem Gesetzestext nur unvollständig entnehmen und den er kaum fehlerfrei bewältigen kann“ (Spelge NZA-Beil. 2021, 34). Insoweit ist der Vorsitzenden des 6. Senats des BAG zuzustimmen. Diverse Begriffe in § 17 KSchG (wie „Entlassung“, „Betrieb“, „Arbeitnehmer“) sind im Einklang mit der MERL 98/59/EG auszulegen. Dies führt zu Unsicherheiten bei der Bestimmung des relevanten Standorts, der zuständigen Behörde und der Zahl der regelmäßig beschäftigten bzw. zu entlassenden Arbeitnehmer (auch Leiharbeitnehmer, Fremd-Geschäftsführer oder Personen iSd § 17 V KSchG?). Bei Fehlern droht die Unwirksamkeit der Kündigung bzw. Aufhebungsvereinbarung.

Jüngst entschied das LAG Hessen unter Berufung auf Spelge (vgl. MHdB ArbR, 5. Aufl. 2021, § 121 Rn. 180, 189, 231), in der Anzeige seien nicht nur die „Muss-Angaben“ (§ 17 III 4 KSchG), sondern auch die „SollAngaben“ (§ 17 III 5 KSchG) anzugeben, sonst sei die Kündigung unwirksam. Die MERL verlange die Mitteilung „aller zweckdienlichen Angaben“ und gebiete eine entsprechende europarechtskonforme Auslegung (LAG Hessen NZA-RR 2021, 598 Rn. 27 ff.). 

Der 6. Senat äußerte sich zuvor mehrdeutig (BAG NZA 2020, 1006 Rn. 93): „Obgleich die MERL diese Unterscheidung nicht kennt und in Art. 3 I UAbs. 3 der MERL die Mitteilung aller ‚zweckdienlichen‘ Angaben verlangt sowie einzelne Punkte nennt, die ‚insbesondere‘ anzugeben sind, entspricht § 17 III 4, 5 KSchG den unionsrechtlichen Vorgaben. Sämtliche insoweit aufgeführten Gesichtspunkte sind ‚zweckdienlich‘ iSv Art. 3 I UAbs. 3 der MERL.“

Im Revisionsverfahren (2 AZR 424/21) wird nun der 2. Senat des BAG am 19.5.2022 klären, ob „Soll“ als „Muss“ zu verstehen ist. Richtigerweise ist die Frage zu verneinen (s. auch Zeppenfeld NZA 2022, 26): Nach Art. 2 III UAbs. 1 MERL hat der Arbeitgeber im Konsultationsverfahren neben den „Muss-Angaben“ nach Buchst. b auch „die zweckdienlichen Auskünfte“ (Buchst. a) zu erteilen. Insoweit kommt dem Arbeitgeber eine „Beurteilungskompetenz“ zu (vgl. BAG NZA 2020, 1091 Rn. 143). Nichts anderes kann für den nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung von Art. 3 I UAbs. 4 der – lediglich auf eine Teilharmonisierung angelegten – MERL gelten. Danach „muss [die Anzeige] alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung und die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter gem. Art. 2 enthalten, insbesondere die Gründe der Entlassung, […]“. Da im Anzeigeverfahren viele Angaben in Bezug auf die Konsultationen und beabsichtigten Entlassungen „zweckdienlich“ sein können, Unmögliches aber von niemandem verlangt werden kann (nemo ultra posse obligatur, vgl. EuGH 15.7.2010 – C-234/09, BeckRS 2010, 90894 Rn. 34), muss bei der Umsetzung der RL auf nationaler Ebene konkretisiert werden, was zweckdienlich ist. Die RL gibt nur das Ziel vor, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel (Art. 288 III AEUV). § 17 III 4 und 5 KSchG setzt die MERL-Vorgaben europarechtskonform um und bedarf keiner „korrigierenden“ europarechtskonformen Auslegung. 

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